Tor der Daemmerung
von einem Echo begleitet.
»Die Treppen zum Erdgeschoss sind eingestürzt«, erklärte Kanin gelassen. »Es gibt nur diesen Weg nach draußen. Wir müssen also den Aufzugschacht benutzen.«
Aufzugschacht? Stirnrunzelnd drehte ich mich zu ihm um. »Das schaffe ich niemals, da raufzuklettern.«
»Du bist kein Mensch mehr.« Er kniff die Augen zusammen. »Du bist jetzt stärker, verfügst über unbegrenzte Ausdauer und kannst Dinge tun, die einem Menschen unmöglich sind. Und falls es dich tröstet: Ich werde dicht hinter dir bleiben.«
Wieder starrte ich in den Aufzugschacht, dann zuckte ich mit den Schultern. »Na schön«, murmelte ich und schnappte mir eines der Kabel. »Aber wenn ich abstürze, erwarte ich von dir, dass du mich auffängst.«
Meine Finger umklammerten das Metallseil und ich zog mich hoch.
Zu meiner großen Überraschung hob mein Körper vom Boden ab, als hätte er keinerlei Gewicht. Immer eine Hand über der anderen kletterte ich mühelos in die Höhe. Es war ein berauschendes Gefühl: Meine Haut riss nicht ein, meine Arme brannten nicht, ich atmete nicht einmal schneller. Ich hätte ewig so weitermachen können.
Abrupt hielt ich inne und kam so aus dem Rhythmus. Ich atmete nicht. Überhaupt nicht. Mein Puls raste nicht, mein Herz schlug nicht … weil ich nicht mehr am Leben war. Ich war tot. Ich würde niemals altern, mich niemals verändern. Ich war ein toter Parasit, der den Lebenssaft anderer trank, um zu überleben.
»Gibt es Probleme?«, hallte Kanins tiefe Stimme zu mir herauf. Er klang ungeduldig.
Ich schüttelte mich. Ein leerer Aufzugschacht war nicht gerade der beste Ort für tiefschürfende persönliche Erkenntnisse. »Alles okay«, gab ich zurück und kletterte weiter. Das alles würde ich später durchdenken; im Moment sagte mir der Magen meines toten Körpers, dass ich am Verhungern war. Schon seltsam, dass mein Herz, meine Lunge und die ganzen anderen Organe nicht arbeiteten, mein Magen und mein Gehirn aber noch funktionierten. Oder vielleicht auch nicht? Keine Ahnung. Zumindest wusste ich inzwischen eine Sache: Was auch immer es über Vampire zu wissen gab, es war alles sehr rätselhaft.
Als ich aus dem Schacht krabbelte, schlug mir eine kalte Brise entgegen. Wachsam sah ich mich um.
Früher hatte hier ein Gebäude gestanden. Fragmente von Stahlträgern und Stützbalken lagen im hohen, gelben Gras verstreut, und der Überrest der ehemaligen Außenmauer zerfiel langsam in seine Bestandteile. Der Putz war schwarz angelaufen und verkohlt und aus dem üppigen Bewuchs des Bodens ragte angebranntes Mobiliar heraus, Betten, Matratzen und Stühle. Von hier aus war der Schacht, aus dem wir gekommen waren, nur ein schwarzes Loch zwischen den Fliesen, kaum zu erkennen unter dem Schutt und dem Unkraut. Solange man nicht direkt danebenstand, würde man die Öffnung wohl erst bemerken, wenn man in den Schacht fiel und sich unten das Genick brach.
»Was ist hier passiert?«, flüsterte ich, nachdem ich das Ausmaß der Zerstörung gemustert hatte.
»Ein Brand«, sagte Kanin knapp und ging über den offenen Platz. Er bewegte sich so schnell, dass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. »Das Feuer hatte im Erdgeschoss seinen Ursprung, ist dann schnell außer Kontrolle geraten und hat das gesamte Gebäude zerstört. Fast alle, die sich darin aufhielten, wurden getötet. Nur das Untergeschoss blieb … verschont.«
»Warst du dabei, als es passierte?«
Kanin antwortete nicht. Wir verließen die Krankenhausruine und überquerten den Vorplatz, wo die Natur alles, was sie erreichen konnte, in einen grünlich-gelben Würgegriff genommen hatte. Pflanzen bohrten sich durch die ehemals flache Asphaltdecke des Parkplatzes und erstickten die Nebengebäude mit ihren Blättern und Ranken. Sobald das Gelände hinter uns lag, war die Ruine unter dem ganzen Grünzeug kaum noch zu erkennen.
Die Straßen des Saums waren dunkel. Dichte Wolken hingen am Himmel und verdeckten Mond und Sterne. Trotzdem konnte ich alles sehen, und nicht nur das: Ich wusste genau, wie spät es war und wie lange es noch dauern würde, bis die Sonne aufging. In der Nachtluft nahm ich das Blut wahr, die feinen Temperaturunterschiede, verursacht von warmblütigen Säugetieren. Es war eine Stunde nach Mitternacht, selbst die mutigsten Menschen hatten in der Dunkelheit längst ihre Türen verbarrikadiert, und ich verhungerte fast.
»Hier entlang«, murmelte Kanin und glitt durch die Schatten.
Widerspruchslos folgte ich ihm
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