Tor der Daemmerung
solchen Kraft. Dein Körper erholt sich von fast allem, aber dazu schöpft er aus seinen Reserven. Sieh dir deinen Arm an.«
Als ich seiner Aufforderung folgte, keuchte ich entsetzt. Meine Haut war kalkweiß, besonders an der Stelle, wo Kanin mich geschnitten hatte. Ich war definitiv blasser als zuvor, und der Arm fühlte sich kalt an. Totes Fleisch. Blutleeres Fleisch. Schaudernd wandte ich den Blick ab und sah aus den Augenwinkeln, wie der Vampir lächelte.
»Wenn du dich nach einem solchen Kraftakt nicht bald nährst, verfällst du in einen Blutrausch und jemand wird sterben«, verkündete er. »Je größer die Wunde ist, umso mehr Blut wirst du brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Verzichtest du zu lange auf Nahrung, wird es genauso sein. Aus diesem Grund lassen sich Vampire nicht auf Beziehungen zu Menschen oder sonst jemandem ein. Es wird der Tag kommen, Allison Sekemoto, an dem du einen Menschen tötest, sei es nun zufällig oder als eine bewusste, zielgerichtete Tat. Das ist unvermeidlich. Die Frage ist nicht, ob es geschieht, sondern wann . Verstanden?«
»Ja«, murmelte ich, »verstanden.«
Seine schwarzen Augen musterten mich eindringlich. »Das will ich hoffen«, sagte er leise. »Ausgehend davon musst du den wichtigsten Aspekt unseres Daseins kennenlernen: wie man sich ernährt.«
Ich schluckte schwer. »Hast du denn keine Beutel mehr?«
Er lachte leise. »Diesen einen habe ich von einer Wache beim wöchentlichen Aderlass beschafft. Normalerweise tue ich so etwas nicht, doch du brauchtest beim Aufwachen sofort Nahrung. Aber du und ich, wir sind nicht wie die Vampire in der Stadt mit ihren Sklaven, Lakaien und ›Weinkellern‹. Wenn du Nahrung brauchst, musst du sie dir auf die altmodische Art besorgen. Ich werde dir zeigen, was ich damit meine. Folge mir.«
»Wo gehen wir hin?«, fragte ich, als er die Tür öffnete und wir einen langen, schmalen Korridor betraten. Die ehemals weiße Farbe blätterte von den Wänden ab und unter meinen Füßen knirschten Glasscherben. Rechts und links führten Türen in weitere Zimmer, in denen Überreste von Betten, Stühlen und seltsamen Gerätschaften herumstanden, die ich nicht identifizieren konnte. Alles war kaputt und chaotisch. In einer der offenen Türen lag ein umgekippter Stuhl, der seltsamerweise Räder hatte und komplett mit Spinnweben überzogen war. Mir wurde bewusst, dass ich in dem dunklen Flur alles glasklar erkennen konnte, obwohl es keinerlei Lichtquelle gab und es eigentlich stockfinster sein musste. Kanin drehte sich lächelnd zu mir um. »Wir gehen auf die Jagd.«
Schließlich mündete der Korridor in eine Art Empfangshalle, die ebenfalls von einem großen Holzschreibtisch dominiert wurde. Über ihm an der Wand hingen angelaufene goldene Buchstaben, die aber so verbogen und kaputt waren, dass man nicht mehr lesen konnte, wofür sie einst gestanden hatten. Auch an den Wänden und Türen zu den Korridoren gab es jede Menge kleinere Schilder, die genauso wenig zu entziffern waren. Die gesprungenen Bodenfliesen waren mit Glassplittern, Schutt und Papier übersät, die bei jedem unserer Schritte knisterten.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte ich Kanin. In dem großen Raum hallte meine Stimme, was die drückende Stille noch greifbarer machte. Es dauerte einen Moment, bis der Vampir mir antwortete.
»Früher einmal«, murmelte er, während er mich durch die Halle führte, »war dies das Untergeschoss eines Krankenhauses. Es war eine der größten und angesehensten Kliniken der Stadt. Hier wurden nicht nur Patienten behandelt, sondern es war auch eine Forschungsgruppe vor Ort, Wissenschaftler, die Krankheiten bekämpfen und neue Heilmittel erschaffen wollten. Als die Rote Schwindsucht zuschlug, wurde das Krankenhaus regelrecht überrannt – sie kamen gar nicht mehr nach mit den vielen Patienten, die hereinstürmten. Unzählige Menschen sind hier gestorben.« Mit gesenktem Blick musterte er den großen Tisch, schien dabei aber mit den Gedanken weit weg zu sein. »Andererseits sind die Leute ja überall gestorben.«
»Wenn das eine Gruselgeschichte werden sollte, war sie ein voller Erfolg, gratuliere. Und, wie kommen wir jetzt hier raus?«
Er blieb vor einem großen, rechteckigen Loch in der Wand stehen und zeigte darauf. Als ich durch die Öffnung spähte, entdeckte ich einen langen Schacht, der senkrecht in die Höhe führte. Dicke Metallseile baumelten vor meiner Nase.
»Das soll ein Scherz sein, oder?« Diesmal wurde meine Stimme
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