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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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hatte, mit zottigem braunem Fell, breiten Schultern und riesigen gelben Klauen. Es schnüffelte in meine Richtung und ließ seine gewaltigen Zähne sehen. Einige davon waren so lang wie meine Finger.
    Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich kannte die Geschichten, die von den alten Leuten in der Stadt verbreitet wurden: Dass jenseits der Mauern wilde Kreaturen lebten, die sich vollkommen unkontrolliert ausbreiteten und vermehrten. Doch die Bezeichnung Bär wurde dem echten Tier nicht annähernd gerecht. Für dieses Monstrum war es ein Leichtes, einen Verseuchten in Stücke zu reißen. Wahrscheinlich hatte es sogar einem Vampir so Einiges entgegenzusetzen.
    Was bedeutete, dass ich ein kleines Problem hatte.
    Der Bär starrte mich mit schwarzen Knopfaugen an, schnaufte leise und schüttelte dann den Kopf, als wäre er verwirrt. Ich blieb stocksteif stehen und versuchte mich daran zu erinnern, was man tun sollte, wenn man im Wald auf einen Bären traf. Sich zu Boden werfen? Sich tot stellen? Na, das klang ja mal nach einer dämlichen Idee. Ganz langsam streckte ich eine Hand auf den Rücken und griff nach meinem Schwert. So konnte ich es sofort ziehen, falls der Bär mich angriff. Gelang mir ein guter, wuchtiger Treffer am Hals, direkt hinter dem Kopf, würde das vielleicht ausreichen, um ihn zu töten. Oder zumindest, um ihn aufzuhalten. Und falls das nicht funktionierte, konnte ich immer noch auf einen Baum klettern …
    Wieder schnaubte der Bär und blähte die Nasenflügel. Er schwankte langsam vor und zurück, stieß ein leises Grollen aus, das tief aus seiner Brust kam, und scharrte mit den Krallen in der Erde. Er machte wirklich den Eindruck, als wäre er völlig durcheinander. Vielleicht roch ich ja nicht nach Beute. Oder überhaupt wie etwas Lebendiges. Irgendwann wandte er sich ab, grunzte noch einmal in meine Richtung und tapste davon. Ich wartete, bis nicht mehr zu hören war, wie er durch das Unterholz pflügte. Erst dann lief ich in die entgegengesetzte Richtung davon.
    Okay, hier draußen gab es also doch Größeres und Gefährlicheres als Verseuchte. Gut zu wissen. Aber warum hatte er mich nicht angegriffen? Hatte er gespürt, dass ich ebenso ein Raubtier war wie er selbst, und deshalb beschlossen, sich eine leichtere Beute zu suchen? Keine Ahnung. Er musste in mir etwas Unnatürliches gesehen haben, etwas, das nicht in diese Welt aus Blättern und endlosen Baumreihen gehörte. Die wilden Tiere hier draußen begegneten wahrscheinlich nicht oft einem Vampir. Und wie hätte man wohl in New Covington reagiert, wenn plötzlich ein Bär durch die Straßen gebummelt wäre? Die Vorstellung amüsierte mich. Wahrscheinlich würden sie sich in die Hosen machen vor Angst. Und Stick würde bei seinem Anblick sofort in Ohnmacht fallen.
    Mein Lächeln verblasste. Wo er jetzt wohl gerade war? Lebte er immer noch in diesem Lagerhaus, zusammen mit den anderen Unregistrierten? Oder hatte er mich verraten, um in einen der Vampirtürme überzusiedeln, um sich füttern und verwöhnen zu lassen und ein neues Leben als Lakai zu beginnen?
    Knurrend schnappte ich mir einen Ast und riss ihn vom Stamm ab. Nein, sagte ich mir wütend, das würde er mir nicht antun. Er konnte es nicht gewesen sein. Wir hatten immer aufeinander aufgepasst, einander den Rücken frei gehalten. Unzählige Male hatte ich ihm das Leben gerettet. Das konnte er doch nicht einfach alles wegwerfen, als hätten all die Jahre keine Bedeutung für ihn, als wäre ich für ihn gestorben. Als wäre ich der Feind. Ein Vampir.
    Hör auf, dir etwas vorzumachen, Allie. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Seufzend trat ich gegen einen Stein, sodass er weit ins Unterholz hineinflog. Wie Stick mich in dieser Nacht im Lagerhaus angestarrt hatte … das war pures Entsetzen gewesen. Ich hatte es in seinen Augen gesehen: Allison Sekemoto, das Mädchen, das sich jahrelang um ihn gekümmert hatte, war tot. Mein Gefühl klammerte sich stur an die Hoffnung, dass Menschen auch loyal sein konnten, dass sie dem Versprechen eines einfacheren Lebens widerstehen konnten. Aber ich wusste es besser. Unregistriert oder nicht: Falls ihm jemand die Möglichkeit bot, nicht mehr zu hungern, zu frieren und herumgeschubst zu werden, würde Stick sofort zugreifen. Es lag einfach in der Natur des Menschen.
    Immer weiter zog sich die Wildnis hin, und ich wanderte einige Nächte lang, ohne zu wissen oder mich darum zu kümmern, wohin ich ging. Wenn die ersten Sonnenstrahlen den Himmel rosa

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