Tor der Daemmerung
auf. Du musst ein Fleckchen freien Erdboden finden, keinen Fels oder Zement, und du musst dich vollständig mit der Erde bedecken. Hast du verstanden? Vielleicht musst du schon sehr, sehr bald darauf zurückgreifen.«
Ich schüttelte nur den Kopf. Die Schreie und das wilde Hundegebell kamen immer näher, und ich konnte ihm kaum noch zuhören. »Kanin!« Meine Augen brannten. »Ich kann das nicht! Ich kann dich nicht sterbend hier zurücklassen.«
»Unterschätze mich nicht, Mädchen«, erwiderte er mit einem geisterhaften Lächeln. »Ich lebe schon sehr, sehr lange. Denkst du denn, das hier sei die schlimmste Situation, in die ich je geraten bin?« Das Lächeln gewann an Kraft und bekam einen bösartigen Zug, bevor er wieder ernst wurde. »Bei dir sieht das allerdings anders aus. Du würdest das hier nicht überleben – noch nicht, nicht in deiner jetzigen Form. Also geh da raus, lebe und werde stärker. Und irgendwo auf dieser Reise werden wir uns vielleicht wieder begegnen.«
Draußen stieß ein Hund ein triumphierendes Heulen aus, woraufhin die Wand von Schüssen durchsiebt wurde und wir uns noch dichter an den Boden drückten. Kanin reagierte mit einem Fauchen. Seine Fänge funkelten und der glasige Schimmer in seinen Augen wurde stärker. Er warf mir einen wilden Blick zu und verzog die Lippen. »Geh! Lauf immer Richtung Wald. Ich werde sie für eine Weile beschäftigen.« Als eine Kugel die Mauer durchschlug und uns mit Putz überzog, knurrte er: »Los jetzt! Verschwinde!«
»Kanin …«
Brüllend drehte er sich zu mir um. Sein Gesicht war zu einer dämonischen Fratze geworden, und zum ersten Mal bekam ich eine Vorstellung davon, was aus ihm werden konnte. Ängstlich wich ich vor ihm zurück. »Geh! Oder ich schwöre, ich werde dir höchstpersönlich das Herz rausreißen!«
Ich unterdrückte ein Schluchzen und wandte mich ab. Ich kroch zu einem der kaputten Fenster auf der anderen Seite des Gebäudes und schlüpfte hinaus. Dabei rechnete ich jeden Moment damit, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Ich blickte nicht zurück. Kanin brüllte auf, ein markerschütternder Laut voller Trotz und Wut, dann folgten unzählige Schüsse und ein verzweifelter Schrei.
Während ich das Grundstück verließ und in die Ruinen flüchtete, liefen mir heiße, blutige Tränen über die Wangen und nahmen mir die Sicht. Ich rannte, bis der Schlachtenlärm hinter mir verklungen war, bis ich die Ruinen durchquert hatte und in den Wald eintauchte, bis der heller werdende Himmel meine Glieder schlaff werden ließ und ich nur noch mühsam kriechen konnte.
Schließlich brach ich keuchend und weinend am Fuß einiger alter Bäume zusammen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Sonne aufging und mich in einen Feuerball verwandeln würde. Halb blind vor roten Tränen bohrte ich die Finger in den kühlen, feuchten Boden und schob Erde und Blätter beiseite. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt schnell genug graben konnte, um der Sonne zu entgehen. Es war so verdammt heiß! Immer hektischer schaufelte ich, panisch, glaubte fast schon, Rauch von meiner Haut aufsteigen zu sehen.
Der Boden unter mir schien zu zerfließen und wegzuschmelzen, bis er mich endlich umfing. Ich fiel in das dunkle Loch, die kalte Erde schloss mich ein wie ein Kokon, und sofort schwand die Hitze. Kühle, wundervolle Dunkelheit umhüllte mich, dann glitt ich in die Bewusstlosigkeit.
Als ich aufwachte, war alles still und ich war allein.
Nachdem ich mir den Dreck aus Haaren und Kleidung geschüttelt hatte, sah ich mich wachsam um, lauschte auf Schüsse oder irgendwelche anderen Lebenszeichen in der Dunkelheit. Abgesehen von den Blättern, die über mir im Wind raschelten, rührte sich nichts. Zwischen den Zweigen funkelten die Sterne.
Kanin war weg. Halbherzig suchte ich die nähere Umgebung ab und ging ein Stück zurück in Richtung der Ruinen, sehr wohl wissend, dass ich ihn unmöglich finden konnte. Falls er tot war, wäre nichts außer ein wenig Asche von ihm übrig. Ich stolperte über ein paar menschliche Leichen, die dermaßen zerfetzt und zerfleischt waren, als hätte sie ein wildes Tier angefallen. Einer von ihnen hielt noch immer sein Sturmgewehr in der blutverschmierten Hand. Ich untersuchte es kurz, aber die Munition war aufgebraucht, also war es nutzlos und hätte mich nur behindert.
Erst als ich sicher war, dass sich außer mir niemand hier aufhielt, begann ich darüber nachzudenken, was ich jetzt tun sollte.
Verdammt, Kanin ,
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