Tore der Zeit: Roman (German Edition)
jedoch nichts ein außer Schnee, Wald und unruhigen Pferden. Wie Geistergeheul schwirrten die Laute durch das Tal.
»Aufsitzen!«, bellte Lucian. »Wir kümmern uns später um Thierry! Erst müssen wir zusehen, dass uns die Pferde nicht durchgehen.«
Die Luft schien ein paar Grad kälter. Ravenna griff nach den Zügeln der Stute, setzte den Fuß in den Steigbügel, fasste hastig in die Mähne. Sekundenbruchteile später tauchte auf dem Felsvorsprung über ihr ein riesiger Wolf auf. Seine Pfoten berührten den Felsen nur kurz, dann stürzte er sich auf sie. Sein Fang war weit aufgerissen, und er hatte nur ein einziges, wie Phosphor glühendes Auge. Es saß mitten auf der Stirn.
Sie schrie auf. Mit einem derben Stoß beförderte Willow sie zu Boden. Sie rollte sich sofort zusammen, denn das Pferd trampelte über sie hinweg. Mit einem Ruck riss ihr die Stute die Zügel aus der Hand und floh in Panik die Straße entlang. Im selben Augenblick hörte sie den dumpfen Schlag, als Lucian und der Wolf zusammenstießen. Der Aufprall war so heftig, dass sie den Damm hinunterrutschten, eine Masse aus Kettenhemd, Mantelstoff und Wolfsfell.
»Scheiße! O Scheiße! Was passiert hier?«, schrie Claude, der alles nur durch den Sucher der Kamera wahrnahm. Thierry rappelte sich benommen hoch – offenbar waren seine Knochen heil geblieben.
»Die Pferde! Haltet die Pferde fest!«, schrie Ravenna, während sie den Abhang hinunterschlitterte und Lucian und der Bestie folgte. Sie raffte einen vereisten Stock vom Boden auf, konnte nur daran denken, dass ihr Ritter sich kaum verteidigen konnte – mit einer verletzten Hand und einem Schwert, von dessen Klinge nur noch eine Handspanne übrig war. Mann und Wolf waren nicht mehr als grauweiße Schatten vor dem Hintergrund des Waldes, verstrickt in einen mörderischen Kampf. Der Rest der Klinge war zu kurz, um den Wolf sicher auf Abstand zu halten. Lucian hatte die Faust in das Nackenfell der Bestie gegraben und stemmte das Tier von sich weg, während der Wolf mit einem wilden Schnarren an seinem Umhang zerrte – bis Ravenna ihm den Stock mit aller Kraft über die Flanke hieb.
Der Wolf heulte nicht auf. Er ließ den Ritter los, fuhr herum und schnappte nach ihr. Sie taumelte, als seine Zähne ihren Rock zerfetzten. Der Wolf setzte ihr nach, doch bevor er sich in ihren Arm verbeißen konnte, drang ihm Lucians Klinge tief in den Hals. Geifernd rollte der Kopf der Bestie in den Schnee, während der blutige Rumpf noch eine kurze Strecke weiterrannte und vor einer Eiche zusammenbrach.
Drei oder vier Sekunden lang drehte sich der Wald um sie. Ravenna wankte und setzte sich unfreiwillig in den Schnee. Durch den zerrissenen Rock drang Kälte an ihre Beine. »Was war das? Was, um Himmels willen, war das denn für ein Biest?«
»Ein Skavenger«, keuchte Lucian. Er zog sie wieder auf die Füße. »Eines von Velascos Schoßhündchen. Wohin ist dein Pferd gelaufen? Warum hast du Willow nicht besser festgehalten, verdammt?«
Entrüstet machte sich Ravenna von ihm los. »Ich kann doch nichts dafür! Die Stute hat sich losgerissen, als der Wolf kam. Sie wird schon wieder …«
Zurückkommen, wollte sie sagen, aber das Wort blieb ihr im Hals stecken. Was zurückkam, war der Wolf, den Lucian Sekunden zuvor erschlagen hatte. Der zusammengesunkene Körper hatte sich aufgerichtet. Statt nur eines Auges glühten nun zwei fahle, grüne Punkte auf der Lichtung. Der untote Wolf besaß zwei Köpfe. Sie waren aus seinem Halsstumpf nachgewachsen.
Mit dem Handrücken wischte sich Lucian über den Mund. Dann spuckte er in den Schnee und hob die kurze, blutige Klinge. Der Wolf drehte die beiden Köpfe und witterte in ihre Richtung. Oben auf der Straße war es totenstill.
»Das sind keine Wölfe!« Lucian stieß die Worte zwischen kurzen Atemzügen hervor. Ravenna blieb dicht hinter ihm, während er und die Bestie einander langsam umkreisten. »Skavenger sind Ungeheuer aus der Hölle. Aaswölfe. Sie haben es auf verfluchte Seelen abgesehen. Sie hetzen sie, bis die Ärmsten dem Wahnsinn verfallen.«
»Ich glaube eher, dein Vater hat ein bisschen im Genpool herumgerührt«, zischte Ravenna. »Mit Beliars Hilfe wäre ihm das durchaus zuzutrauen. Aber wir sind keinesfalls wahnsinnig. Und verflucht sind wir auch nicht.«
Ihre Worte waren kaum mehr als ein weißer Lufthauch. Plötzlich spürte sie, wie sich Lucians Körper anspannte. »Ich schon«, stieß er hervor.
Dann griff er den zweiköpfigen Wolf an.
Ein
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