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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Zeitabschnitten geschehen ist. Oder was ich getan habe. Ich erinnere mich einfach nicht. Ich weiß nur eines: Deine Schwester hatte mich verhext. Es gab eine Zeit, da konnte sie mit mir machen, was sie wollte, und ich fürchte, sie ging viel zu weit. Jetzt wohnt sie im Schloss meines Vaters, und Velasco zeigt ein ungewöhnliches Interesse an ihr und dem Kind. Begreifst du, Ravenna: Der Hexer von Carcassonne würde sich niemals um deine Schwester kümmern, wenn er sich nicht einen Vorteil davon verspräche.«
    »Sei still. Kein Wort mehr. Ich will das nicht hören.« Ravenna flüsterte fast, obwohl sie das Gefühl hatte, sie müsse schreien. Sie spürte, wie ihr Herz taub wurde, als ihr das ganze Ausmaß von Lucians Geständnis aufging. Yvonnes Baby war auch sein Kind?
    Die Nacht in der Kammer ihrer Schwester fiel ihr wieder ein, die geflüsterte Unterhaltung im Bett unter dem Alkoven. Mathis ist nicht der Vater. Und: Ich warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.
    Sie dachte, sie sollte aufheulen wie ein Wolf und mit den Fäusten auf Lucians Brustpanzer einschlagen – irgendetwas. Aber da war nur diese unfassbare Betäubung. Der Irrsinn, in den sie plötzlich verstrickt waren, war einfach zu groß.
    Sie zog ihre Hand zurück und ließ Lucian kniend im Schnee zurück. Auf wackeligen Beinen stapfte sie zur Straße, ohne sich umzuschauen, ob er kam oder blieb, ob er noch irgendetwas tat, um ihre Beziehung zu retten, oder längst aufgegeben hatte.
    »Aufsitzen!«, herrschte sie die beiden Schaulustigen an, die die Dreistigkeit besaßen, ihre Demütigung und Verzweiflung in Nahaufnahme festzuhalten. »Auf die Pferde! Wenn wir noch länger hier herumstehen, kommen die Skavenger wieder. Wir reiten weiter! Sie wollten doch wissen, was am Ende dieser Straße liegt.«
    Thierry signalisierte das Ende der Aufnahmen. Endlich ließ sein Assistent die Kamera sinken und schaltete die starke Lampe aus. Das Licht im Tal wurde schlagartig bleiern. Die Wipfel der Bäume neigten sich rauschend, Zweige knackten im Wind. Die Luft roch nach Regen.
    Suchend schaute Ravenna sich nach ihrem Pferd um. Willow war ein Stück auf der Straße geflohen und hatte dann angehalten. Nun stand die Stute am Wegrand und wühlte mit dem Vorderhuf im Schnee, um gefrorene Grashalme abzuweiden.
    Ravenna ging das ganze Stück zu Fuß, ohne sich ein einziges Mal nach ihren Begleitern umzuschauen. Nur am knirschenden Hufschlag hörte sie, dass ihr die anderen folgten.
    Sie führte ihre Stute zurück auf die Straße und stieg in den Sattel. Einen Augenblick lang wurde ihr schwarz vor Augen. Es lag am Hunger, an der Anstrengung und der Kälte. Bäuchlings hing sie über dem Sattel und wartete, bis der Schwächeanfall vorüber war. Dann schwang sie sich aufrecht aufs Pferd. Niemand wagte es, sie zu überholen. Alle, Lucian eingeschlossen, warteten schweigend, bis sie bereit war, sich an die Spitze ihrer kleinen trostlosen Truppe zu setzen.
    Sie hatte sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt. Das erkannte sie plötzlich, während Willow durch das windige Tal trabte. So absurd es war: Sie und ihr Ritter aus dem dreizehnten Jahrhundert – sie hatte wirklich geglaubt, es könnte funktionieren. Jeder von ihnen brachte Eigenschaften mit, die es ihm ermöglichten, in der Welt des anderen zu leben. Jeder von ihnen besaß genug Mut, um durch ein Zeittor zu treten, nur um dem anderen nahe zu sein. Und ihre Liebe war aufrichtig. Zumindest hatte sie das geglaubt, bis sie nun, nach einer Zeitspanne von mehr als siebenhundert Jahren, erfahren musste, dass Lucian sie mit ihrer kleinen Schwester betrogen hatte.
    Sie schloss die Augen und rieb sich mit zitternder Hand über die Stirn. Eine Zeitlang ritt sie blind weiter, als würde sie das davor bewahren, das Elend und die Verzweiflung zu sehen, in der sie zu versinken drohte. Eine Weile hatte das Schicksal sie glauben lassen, sie könnte ein kleines bisschen Glück für sich abzweigen. Schließlich verlangte sie nicht viel: ein Leben zu zweit, an der Seite des Mannes, den sie liebte. Ein sorgenfreies Leben, weil ihre vermisste Schwester wiedergefunden worden war. Weil alles wieder gut war. Beliar hatte ihr diese Möglichkeit vorgegaukelt mit seinem verdammten Quiz. Einen Abend lang hatte sie im Rampenlicht gestanden und geglaubt, sie könnte es schaffen. Umso schmerzlicher war nun der Sturz auf den Boden der Tatsachen.
    Denn plötzlich erkannte sie, was wirklich gespielt wurde: Nicht Beliar – ihre Schwester nahm Rache an ihr.

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