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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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einmal brauche, um den sicheren Untergang von mir und meinen Freunden abzuwenden. Ist das Drama und Desaster genug für eine abendfüllende Unterhaltung?«
    Er hatte nicht zu ihr gesprochen, sondern zu dem unseligen Duo oben auf der Straße. Claude und Thierry standen stumm nebeneinander. Der Scheinwerfer der Kamera warf einen harten Schlagschatten auf Lucians Gesicht und ließ die Kettenglieder am Halsausschnitt seiner Rüstung glitzern.
    »Ist das der Beweis, den ihr haben wolltet? Mein Eingeständnis, das ihr unbedingt dokumentieren musstet?«, fuhr der Ritter fort. Er ging auf die beiden Männer zu. »Ja – ich besitze ein schwarzmagisches Talent. Und ich bin in der Lage, es einzusetzen, obwohl der König für Hexerei und Schadenszauber die Todesstrafe verhängt hat. Was wollt ihr jetzt machen?«
    Hastig rappelte sich Ravenna auf und bedeutete der Filmcrew, die Aufnahme sofort abzubrechen. Aber Thierry und sein Partner achteten nicht auf sie. Sprachlos und gebannt verfolgten sie die Ereignisse am Bach.
    »Lucian«, rief Ravenna und trat zwischen ihn und die gnadenlose Kamera. »Lucian, sieh mich an! Ich bin es. Ravenna. Deine Gefährtin im Kreis der Sieben.«
    Etwas Licht fiel in seine Augen, ein Funken des Erkennens. Er holte Luft wie jemand, dessen Kopf zu lange unter Wasser gedrückt worden war. »Merkst du jetzt endlich, was ich bin?«, stöhnte er. »Der Sohn von Velasco der Krähe, dem man blutrünstige Lieder nachsang, wo immer er durch die Straßen ritt. Die Wahrheit lautet: Ich bin keinen Deut besser als mein Vater. Ich bin sogar tausendmal schlimmer als er, denn ich habe mir das Vertrauen meiner Freunde erschlichen, dein Vertrauen und das des Königs. Das ist so, als säße ein Wolf mit den Lämmern bei Tisch.«
    Ravenna trat dicht an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Brust. Unter den Fingern spürte sie seinen Puls, der hart wummerte, und sie nahm einen fremden Geruch an ihm wahr. Nach Wolfsblut, Tod und geschmolzenem Schnee.
    »Es ändert nichts«, sagte sie. »Dass du Velascos Sohn bist, ändert nichts an der Tatsache, dass wir zusammen sind. Außerdem würde ich die Sieben nicht gerade als Lämmer bezeichnen. Sondern eher als Pantherinnen. Sehr schön und sehr gefährlich.«
    Lucian ächzte, als seien ihm Rüstung und Schwert plötzlich zu schwer. »Constantin erzog mich dazu, schwarze Magie zu verabscheuen. Als Mitglied des Ordens ist es meine Pflicht, Hexern das Handwerk zu legen. Aber die Gabe schlummert in mir. Manchmal, in Momenten großer Gefahr, erwacht sie, und ich kann sie nicht unterdrücken.«
    Ravenna schlang die Arme um ihn. »Ich weiß. Ich weiß das alles, und es macht mir nichts aus. Du hast gerade unser Leben gerettet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Constantin dir das zum Vorwurf macht.«
    Lucian küsste sie sanft auf ihr Haar. Er zitterte, als trüge er keine Kleider. »Es gibt aber etwas, dass du noch nicht weißt«, flüsterte er. »Es geht um Yvonnes Kind. Hört mir genau zu, Ravenna: Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass es diesen Fluch erbt. Es soll nicht dieselbe Last tragen wie Velasco oder ich.«
    Erst begriff sie nicht, was er eigentlich sagen wollte. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sanken ihre Arme herab. Sie trat einen Schritt zurück und starrte ihm ins Gesicht. Sie wollte ihm eine Antwort gegeben, den Schock des Begreifens mildern – versöhnliche, verständnisvolle Worte, die alle Betroffenen beruhigten. Aber das Einzige, das ihr über die Lippen kam, war ein heiseres Krächzen.
    »Was?«
    Einige Herzschläge lang musterten sie einander. Der Wind pfiff durch die Bäume und jagte Wolken über den Himmel. Dann ergriff Lucian ihre Hand und sank auf einem Knie in den Schnee, zog ihre Finger an seine Stirn – eine Geste zwischen einem Ritter und seiner Hexe, die Ravenna schon sehr lange nicht mehr erlebt hatte. Doch sie passte zu diesem trüben Nachmittag im Mittelalter, zur blutbefleckten Lichtung, den ängstlichen Pferden und dem Filmteam oben am Hang, das zu ihnen herabglotzte.
    »Ich weiß es nicht mehr«, gestand Lucian, während sein Gesicht einen gequälten Ausdruck annahm. »Ich weiß es einfach nicht. Ich kann dir nicht sagen, was zwischen mir und deiner Schwester vorgefallen ist. Wie ich schon sagte: Die Erinnerung ist weg. Da sind Bilder, Satzfetzen, ganze Stunden und Gespräche, die mir klar vor Augen stehen. Das Meiste ist jedoch in einen Nebel gehüllt, den ich nicht durchdringen kann. Ich weiß nicht, was in diesen

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