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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Sie hatte keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit sie Yvonne so sehr verletzt hatte, dass es dafür keine Wiedergutmachung gab.
    Aber während sie das schneebedeckte Tal hinabritt, wurde ihr klar, welche Strafe sich ihre Schwester für sie ausgedacht hatte. Yvonne zerstörte das Wertvollste, das sie besaß: die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft mit Lucian.
     

 
    Die Schmiede
    Die Dämmerung brach an. Der Himmel war eine brodelnde Masse, aus der die ersten dicken Tropfen fielen. Ravenna war so weit bergab geritten, dass der Schnee allmählich zurückging. Schlammige Hänge lagen hinter ihr, gurgelnde Bäche und felsige Stellen, über die die Stute klettern musste. Schwarz gezackte Bergkämme ragten zu beiden Seiten des Tals auf.
    Ravenna fror. Jeder Windstoß zerrte an ihrem Mantel und drang durch den feuchten Kleiderstoff bis auf die Haut. Ihre Knie waren wundgescheudert, und ihr Magen glich einer hohlen Faust, die sich um schmerzende Leere ballte.
    Ihre Begleiter waren so weit zurückgeblieben, dass sie keinen Hufschlag mehr hörte. Es war ihr egal. Es gab nur diesen einen Weg – bergab. Der einsame Ritt durch die anbrechende Nacht war das einzige bisschen Privatsphäre, das sie für sich in Anspruch nehmen konnte.
    Erschöpft lauschte sie dem morastigen Schmatzen, mit dem die Hufe der Stute in den Untergrund sanken. Sie gab es nur ungern zu, aber Lucian hatte recht: In diesen Bergen gab es noch nicht einmal ein einsames Gehöft, in dessen Heuschober sie vor den Wölfen Schutz suchen konnten. Vor den Wölfen, der Nässe und der Dunkelheit.
    Mit gesenktem Kopf ritt sie weiter. Als sie wieder aufblickte, schälte sich eine Baumgruppe aus der Dämmerung. An den Ästen hingen frostige Spinnweben. Hexenhaar. Willow strebte in diese Richtung, und Ravenna ließ ihr ihren Willen. Am Rand des Buchenhains blieb die Stute stehen und senkte den Kopf. Sie blies laut auf den Boden und fing dann an zu fressen.
    Auch die Pferde hatten Hunger. Es gab kein Gras, um die Tiere weiden zu lassen. Sie hatten kein Korn und keine Zeit, um sich um dieses Problem zu kümmern. Andererseits war ein Reiter mit einem geschwächten oder lahmen Pferd im dreizehnten Jahrhundert sehr schnell ein toter Reiter.
    Ravenna glitt aus dem Sattel. Vor Hunger und Kälte war ihr ganz schwindlig. Sie kauerte sich neben dem Kopf der Schimmelstute nieder, schlang die Arme um die Knie, um sich vor den kalten Böen zu schützen. Geistesabwesend beobachtete sie, wie Willow mit der Zunge Zweige und altes Laub aussortierte. Die Stute näherte sich Schritt für Schritt und stupste sie dann an.
    »Bucheckern«, murmelte Ravenna. » Fagus sylvatica. «Sie kratzte faulige Blätter zur Seite. Unter der nassen Schicht kamen dreieckige, spitz zulaufende Nüsse zutage. Sie hatten eine dünne, rotbraun glänzende Schale und weißlichen Flaum am oberen Ende.
    »Die Früchte der Rotbuche.« Lobend klopfte Ravenna ihrer Stute auf den Hals. »Sie sind essbar. Im Mittelalter – also jetzt – hat man daraus Öl gepresst. Wegen ihres Gehalts an Alkaloiden und Oxalsäure sind sie leicht giftig und können Magenbeschwerden hervorrufen. Und an der hier« – sie zeigte Willow das Loch – »war der Wurm.«
    Die Stute schnaubte und suchte weiter nach Futter. Ravenna warf die angefaulte Buchecker weg, steckte sich eine andere Nuss in den Mund. Mit den Zähnen knackte sie die Schale auf, spuckte die Reste aus und aß den Kern. Er schmeckte leicht bitter. Erde knirschte zwischen ihren Zähnen. Wie ein Tier kauerte sie auf dem Boden und nagte an den Schalen herum, während der Wind mit ihrem Umhang spielte und der Regen auf ihren Rücken prasselte.
    Nachdem sie zwei Hände voll Bucheckern gegessen hatte, fühlte sie sich besser. Sie stand auf. Die alchemistische Landkarte steckte in ihrer Satteltasche. Das Ding knisterte, als sie es auseinanderrollte. Zwischen ihren Fingern und dem Pergament strömte eine zarte, blaue Spannung. Die Schrift glühte in der Dunkelheit. Finde den magischen Gral.
    Ravenna schüttelte den Kopf.Idiotie. Es gab keinen Kelch mit außergewöhnlichen Kräften. Der Gral gehörte ins Reich der Fabeln und Legenden, bot höchstens Stoff für Romane über das Mittelalter. Niemand hatte die magische Schale je gefunden.
    Ravenna ignorierte die Quizfrage. Stattdessen suchte sie mit ihrem schmutzigen Zeigefinger die Brücke, an welcher der Bach und der Damm zusammentrafen. Dort hatten sie gegen die Aaswölfe gekämpft. Sie folgte mit dem Finger der Straße, auf der sie

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