Tore der Zeit: Roman (German Edition)
den Bergen? Mitten in diesem … diesem Gebüsch?«
Die beiden Dokumentarfilmer ließen sie nicht aus den Augen. Claude drehte die Kamera unauffällig in ihre Richtung, auf den Sattel gestützt, und betätigte den Aufnahmeknopf. In diesem Augenblick wünschte Ravenna beinah, die Aaswölfe hätten ihre Begleiter gefressen. Sie ballte die Fäuste um die Zügel.
»Das ergibt keinen Sinn«, stieß sie hervor. »Das ergibt einfach keinen Sinn.«
»Hier trennen sich unsere Wege«, wiederholte Lucian jedoch. Seine Stimme klang vollkommen ruhig. »Zieh du mit deinem Team weiter. Schließt euch dem Pilgerzug an. Die Menschen bieten euch Schutz. Du wirst deinen Weg in dieser Show schon machen. Immerhin besitzt du die alchemistische Landkarte und weißt, wie du die Prüfungen bestehen kannst. Denk nur an das viele Geld, das dem Sieger winkt! Ich reite nach Carcassonne zurück und werde dort ein paar Dinge klarstellen.«
Ravenna kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, damit ihr keine einzige Träne entkam. Sie wollte sich auf keinen Fall anmerken lassen, welches Gefühlschaos in ihr brodelte – nicht solange die Kamera unablässig zwischen ihr und Lucian hin und her wanderte.
»Stand das etwa auf der Karte, die Thierry dir gab?«, fauchte sie. »Begib dich in die Höhle des Löwen und komme darin um?«
»Es wird Zeit, dass ich dieser Sache ein Ende bereite«, entgegnete Lucian. »Ich schiebe die Auseinandersetzung mit meinem Vater schon viel zu lange hinaus. In Carcassonne hat er mich überrumpelt, sonst wäre alles anders gekommen. Noch mal passiert mir das nicht.«
»Du hast nicht mal ein Schwert!«
»Ich brauche keines«, erwiderte Lucian und stellte damit klar, dass er an einen Zweikampf anderer Art dachte. An ein Duell zwischen zwei Magiern, das ausschließlich mit schwarzen Gaben geführt wurde. Der Schauder erfasste sie nun am ganzen Körper.
»Ausgeschlossen! Ich verbiete es. Hörst du? Ich bin deine Hexe und untersage dir, jetzt umzudrehen. Es ist keine Heldentat, wenn man sein Leben wegwirft.« Sie lenkte die Stute in seine Nähe. »Na schön, wir haben im Moment ein paar Beziehungsprobleme. Ich gebe zu, es sind ziemlich heftige Probleme. Du und meine Schwester und jetzt auch noch ein Kind – ich muss schon sagen, das ist ganz schön viel auf einmal. So ein Durcheinander überstehen die meisten Paare nicht. Aber weißt du nicht mehr, was du einmal zu mir gesagt hast? Magische Gefolgschaft ist mehr als das. Du hast gesagt, die Verbindung zwischen einer Hexe und ihrem Ritter gebe deinem Leben überhaupt erst einen Sinn. Standfestigkeit, Wahrhaftigkeit und Mut – verdammt, ich kenne niemanden, der diese Eigenschaften überzeugender vertritt als du.«
Lucian schwankte leicht im Sattel. War es das Fieber? Oder überraschte ihn die Tatsache, dass sie sich so gut an seine Worte in Vanessas Talkshow erinnerte?
Ihr Herz klopfte bei der Erinnerung an seine Liebeserklärung. Auf dem langen Weg durch diese Berge hatte sie sich schließlich zu einer Erkenntnis durchgerungen: Sie wollte Lucian auf keinen Fall verlieren. Auch wenn das Vergeben schmerzhaft war – ihre Feinde erwarteten, dass ihre Beziehung an den Schwierigkeiten zerbrach. Dass ihre Liebe scheiterte und sie dieses Scheitern in aller Öffentlichkeit eingestehen musste. Diesen Gefallen wollte sie Beliar auf keinen Fall tun.
In Wahrheit trug jemand anderes die Schuld an ihrer Misere: Yvonne. Ihre Schwester hatte einen Bannfluch gewoben und ihren Ritter verführt. Sie hatte alles unternommen, um sie und Lucian zu entzweien. Yvonne hatte gelogen, sie getäuscht und schließlich die Seiten gewechselt. Wenn es jemanden gab, auf den Ravenna wirklich wütend war, dann war sie es.
Nach kurzem Schweigen beugte Lucian sich nach vorn und fischte die Zügel aus Ghosts silbriger Mähne. »Unsere Wege trennen sich«, beharrte er zum dritten und letzten Mal. »Im Grunde hat Beliar recht, Ravenna: Es ist besser, wenn jeder von uns dorthin zurückkehrt, wo er hingehört. Du in die Zeit der glitzernden Lichter und aufregenden Großstädte. Und ich ins dumpfe Mittelalter, in dem ein Mann wie ein Idiot auf eine andere Hexe hereinfällt. Das hat doch keine Zukunft.«
Thierry schnappte leise nach Luft. »Hast du das? Hast du das im Kasten?«, zischte er. Dann änderte er den Tonfall und näherte sich dem Mikrofon. »Dramatische Wendung beim WizzQuizz«, raunte er. »Ravenna wird von ihrem Geliebten verlassen. Gibt sie jetzt auf?«
Lucian wendete den Hengst. Ravenna öffnete
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