Tore der Zeit: Roman (German Edition)
den ganzen Tag über geritten war. Der Weg hatte sich mehrmals verzweigt. Sie war ihrem Bauchgefühl gefolgt, hatte manchmal einfach Willow die Wahl der nächsten Abzweigung überlassen.
Mit gerunzelten Brauen starrte sie auf die Karte. Wo würden sich die Sieben verstecken? Wo würde sie sich verstecken, wenn sie in den Bergen eines feindlichen Grafen ein Winterquartier brauchte? Im Tal oder auf der Höhe? In einer Höhle? Oder würden Constantin und seine Ritter versuchen, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen?
Lucian hatte behauptet, aufVelascos Ländereien gab es keine Sägemühlen, Bergbauernhöfe oder Schafweiden. Höchstens gefährliche Saumpfade, auf denen Schmuggler unterwegs waren. Das war vielleicht seinerzeit so gewesen, als er ein Junge gewesen war. In der Karte waren jedoch Gehöfte und Hütten eingezeichnet.
Ravenna hob den Kopf. Wenn die Karte stimmte, würde sie bald auf eine breitere Straße stoßen. Sie brauchte nur die Wiese hinunterzureiten. Sie rollte die Karte wieder zusammen und verstaute sie in der Satteltasche. Dann ordnete sie die Zügel, packte Willows Mähne und saß auf.
Sie musste nicht lange reiten, bis die Straße in Sichtweite kam. Erschrocken zog sie die Zügel an. Menschenmassen waren auf der Schotterpiste unterwegs, ein Strom von Reisenden, der sich nach Westen bewegte. Ravennas Herz klopfte hart. Sie beobachtete die Vorbeiziehenden von der Hügelkuppe aus, verborgen hinter einer Weißdornhecke.
Auf der Straße hätten zwei Brauereiwagen nebeneinander Platz gefunden, so breit war sie. Fuhrwerke und Fußgänger verstopften die Fahrbahn. Fahrendes Volk zog in Planwagen durchs Gebirge. Reiter auf ungeduldigen Pferden, Sänften, Esel und sogar Handkarren drängelten sich an den langsameren Gespannen vorbei. Bunte Fahnen und Wimpel wehten über der Szenerie. Eine Gruppe von Kindern hüpfte auf einem Wagen auf und ab, den der Vater zog. Die Damen saßen auf Zeltern, die in weichem Trott vorwärtsschritten. Glöckchen und Borten baumelten am Zaumzeug. Adlige Herren eilten ihrem Tross aus Standartenträgern, Beratern und einer Heerschar von Dienern voraus. Alte Frauen, Männer und junge Mädchen in bäuerlichen Gewändern schritten neben Bettelmönchen. Handwerksburschen hatten ihre Bündel an knorrige Stäbe geschnürt, die sie auf der Schulter trugen. Tagelöhner und Tagediebe – die ganze Bevölkerung des dreizehnten Jahrhunderts schien in Bewegung geraten zu sein.
Ravenna nagte an ihrer Unterlippe. Das Knarren der großen Holzräder, Hufgetrappel, das Gebimmel der silbernen Glöckchen und das Brüllen der Ochsen drangen durch den Regen zu ihr herauf, unterlegt von Stimmengewirr und unzähligen Schritten auf Kies. Sie fragte sich, ob sie es wagen durfte, die Reisenden um Hilfe zu bitten. Aber ein Blick auf den weißen Rock, der an ihren Oberschenkeln klebte, auf die glitzernden Säume des Hexenmantels, verriet ihr, dass das keine gute Idee war.
Jeder würde in ihr die Weiße Hexe aus der Zukunft erkennen. Das hat Beliar wirklich fein eingefädelt, dachte sie und lächelte grimmig. Nun zählte sie selbst zu den Sagen und Legenden der Berge. Das Schreckgespenst aus den Pyrenäen. Die Eiskönigin aus dem Schloss von Carcassonne.
Mit einem gereizten Seufzen wischte Ravenna sich das nasse Haar aus der Stirn. Als sie Hufschlag hörte, drehte sie sich um. Thierry, der Kameramann, schloss zu ihr auf, dick vermummt in Anorak und Kapuze. Offenbar hatte ihn der Schreck über den Sturz recht schnell das Reiten gelehrt.
Sie trabte ihm ein Stück entgegen und winkte. Sie wollte nicht, dass die Leute auf der Straße ihre Gruppe entdeckten.
»Haben Sie etwas zu essen?«, fragte Ravenna ihn, als sie in Hörweite war. »Einen Schokoriegel? Traubenzucker? Irgendeine Art von Verpflegung?«
Thierry schüttelte den Kopf. »Statt Proviant haben wir alle verfügbaren Akkus eingepackt. Weil es in den Bergen doch keine Steckdosen gibt.«
Akkus und Steckdosen. Im ersten Moment glaubte Ravenna, sich verhört zu haben. Aber an Thierrys ausgehungertem Blick erkannte sie, dass er die Wahrheit sagte.
»Warten Sie«, keuchte er, als sie die Stute wieder antrieb. »Bitte warten Sie noch ein paar Minuten. Sonst verlieren wir ihn ganz aus den Augen.«
Im ersten Moment glaubte Ravenna, dass er von seinem Tontechniker sprach. Als sie sich im Sattel umdrehte, merkte sie, dass von Lucian die Rede war. Er war so weit zurückgeblieben, dass von Pferd und Reiter nur noch ein fahler Schatten zu erkennen
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