Tore der Zeit: Roman (German Edition)
nicht, die Stimme zu erheben. Oben an der Straße sammelten sich Schaulustige. Erwartungsvoll schauten sie zu den Reitern hinunter, eine schweigende, dunkle Menschenmasse, die die gewundene Passstraße säumte.
Lucian schwang sich aus dem Sattel. Er hielt sich mit der linken Hand am Steigbügelriemen fest und schöpfte Atem. »An diesem Ort wurde Durendal erschaffen«, sagte er. »Aber das Schwert brachte seinem Besitzer kein Glück. Angeblich steckt es noch immer irgendwo in dieser Schlucht in einem Felsen.«
»Na, dann wollen wir hoffen, dass wir mehr Erfolg haben«, murmelte Ravenna. Sie glitt von Willows Rücken und warf Thierry die Zügel zu. »Sie warten hier«, schärfte sie den beiden Filmemachern ein. »Lassen Sie niemanden in die Nähe der Schmiede. Wir sind gleich wieder da.«
»Können wir nicht mitkommen?«, bettelte der Kameramann. »Eine Totale von der Schmiede, Sie beide, wie Sie den Turm betreten, dann Lucian halbnah von vorne, während sein Schwert gerichtet wird. Außerdem filmen wir die Hände des Schmieds. Dann wären wir auch schon fertig für heute.«
»Diesmal nicht«, sagte Ravenna und sah auf die Uhr. »Geben Sie gut auf unsere Pferde acht. Es kann sein, dass wir schnell von hier verschwinden müssen.«
Lucian ging bereits auf den düsteren Turm zu. Auf der Seite zum Hof gab es eine schmiedeeiserne Tür. Rost überzog die Gitterstäbe. Als Ravenna eintrat, spürte sie plötzlich ein Kribbeln, als würde die Erde unter ihren Füßen zittern. Kam das Beben vom Wasserfall? Oder gab es eine andere Ursache dafür – Magie?
Lautlos folgte sie Lucian, der sich wie ein heller Schatten vor ihr bewegte. Plötzlich hatten das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens aufgehört. Außer der Ruhe im Turm war da aber noch etwas anderes – sie spürte ein Prickeln auf der Haut, bei dem sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Magie, kein Zweifel.
»Hier gibt es ein Tor«, flüsterte sie. »Dieser ganze verdammte Turm ist ein Tor! Bist du sicher, dass wir uns hier aufhalten sollten?«
»Ravenna«, erwiderte Lucian, während er sich geduldig zur Mitte des großen, kreisrunden Raums vortastete. »Du hast mich anscheinend nicht richtig verstanden. Der Besitzer des Schwerts Durendal lebte irgendwann im achten Jahrhundert. Jetzt haben wir Ende Februar 1254. Natürlich ist das ein Tor. Wie sollten wir den Schmied denn sonst finden?«
Sie schnappte nach Luft. Von einem Zeitsprung hatte ihr Ritter nichts gesagt, als er sie um Hilfe bat.
»Wenn der Schmied nicht in dieser Zeit lebt – wer hält dann den Meiler draußen in Gang?«, wollte sie wissen. »Irgendwas stimmt doch hier nicht. Wieso begegnen wir keiner Menschenseele?«
An den Geräuschen erkannte sie, dass Lucian die Esse gefunden hatte. Es musste eine große Feuerstelle sein. Der Turm diente offenbar als Rauchfang. Als sie den Kopf hob, bemerkte sie ein schwaches Glitzern und dahinter ein kreisrundes Stück Himmel – der hellste Fleck in dem düsteren Raum.
Sie trat neben Lucian. Zangen schlugen mit leisem Klang aneinander, als er gegen die Einfassung stieß. Dann knisterten Reisig und Zweige in seinen Händen, und zuletzt schichtete er ein paar Brocken Kohle auf.
»Jetzt – ich bin so weit. Ruf den Schmied«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Da begriff sie endlich, wie dieses Wort gemeint war. Rufen – das war die Aufgabe der Tormeisterin. Zögernd streckte sie die Hand aus. Ihre Finger schmerzten von der aufgestauten Magie im Turm. Fünfhundert Jahre Schweigen lasteten auf ihr. Doch sie würde die Stille nun unterbrechen.
»Fyr!« , raunte sie.
Vielleicht lag es an ihrer nassen Kleidung. Vielleicht lag es auch daran, dass sie angespannt, müde und hungrig war. Jedenfalls zeigte sich die Magie anders als sonst: Eine blaue Flamme flackerte an ihrer Schulter und raste an ihrem Ärmel entlang wie ein brennender Tropfen Spiritus. Sie spürte die Hitze durch ihre Kleider und hätte beinah die Hand zurückgerissen. Dann sprang der Funke von ihrer Hand über. Eine grelle, weiße Lohe fauchte in der Esse empor. Eine riesige Lohe.
»Oh verdammt!«, stieß Lucian hervor und wich hastig von der Herdstelle zurück. »Ein kleines Feuer hätte es auch getan.«
»Das passiert wegen des magischen Stroms«, keuchte Ravenna. »Er führt mitten durch die Esse hindurch. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Mit einem bangen Gefühl schaute sie sich in der Schmiede um. Ruß sammelte sich in zahlreichen Spinnennetzen. Das Feuer hatte die Wände geschwärzt.
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