Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
Vom Netzwerk:
hinter ihnen auf und legte ihnen beiden einen Arm um die Schultern, eine Vertraulichkeit, die Lucians Schwertarm zucken ließ. Ravenna warf ihm einen warnenden Blick zu – und ihr Ritter hielt sich zurück.
    »Denn wer sonst würde Vadym so charmant und schonend beibringen, dass auch seine dritte Antwort eine Niete war?«, fuhr Beliar fort.
    Der Russe fluchte stumm und schüttelte den Kopf. Ein Raunen der Enttäuschung ging durch die Menge. Offenbar hatte Vadym auch im dreizehnten Jahrhundert jede Menge Anhänger gefunden.
    »Weil Vadym dreimal falsch lag, darf er nicht mehr antworten«, erklärte Beliar. »Nun sind wir alle sehr gespannt, was Ravenna zu dieser Frage meint. Hör noch einmal genau zu, bevor du uns deine Lösung verrätst: Wo befindet sich der magische Gral?«
    Sie schaute Beliar ins Gesicht. Plötzlich musste sie wieder an ihren Nachtspaziergang durch das eisige Paris denken, an all die Gemeinheiten, die er ihr damals ins Ohr geflüstert hatte. Du hast dich geirrt, dachte sie und fasste ihn fest ins Auge. Du täuschst dich – und ich werde es dir beweisen.
    Ganz bewusst lockerte sie ihre verkrampfen Muskeln und schaute in die Menge.
    »Das ist jetzt fast ein bisschen gemein Vadym gegenüber«, sagte sie leise. »Denn eigentlich hätte es jeder der genannten Orte sein können, wenn Vadym ihn nur richtig beschrieben hätte. Die einzig mögliche Antwort auf die Frage lautet: Der Gral befindet sich überall und nirgends. Es ist kein bestimmtes Ding, keine Schale oder so. Sondern eine Metapher. Mit dem Wort Gral bezeichnet man jeden Ort, durch den der magische Strom fließt: Jodoks Schmiede, das Tor in den Katakomben und natürlich auch den Odilienberg. Aber das sagte Vadym leider nicht. Er glaubt wirklich, es geht um einen Becher.«
    Nur das Gezwitscher der Vögel war einen langen Augenblick zu hören.
    »Was sagt man dazu?«, rief Beliar dann. »Ravennas Antwort ist absolut richtig!«
     

 
    Ein treuer alter Feind
    Der Lärm war ohrenbetäubend, ein Geschrei aus zehntausend Kehlen. Ghost scheute zurück und klemmte Lucians Bein an der Kante der Tribüne ein. Er verzog das Gesicht und trieb das Pferd von dem Podest weg.
    Eine Woge aus Leibern, Armen und Köpfen drängte auf sie zu. Zahlreiche Menschen wollten auf das Gestell klettern und die Teilnehmer anfassen. Sie hochleben lassen und den Sieg der Hexe feiern. Oder ihren Ärger an ihr abreagieren – je nachdem, wessen Anhänger sie waren.
    Mit klopfendem Herzen zog sich Ravenna einige Schritte zurück, bis Beliars ausgebreitete Arme sie stoppten.
    »Was soll ich denn jetzt bloß mit diesen beiden Wettkämpfern anstellen?«, schrie er den Leuten zu. »Schaut sie euch an: Sind sie nicht großartig – alle beide?« Er schubste sie und den Magier aus Sankt Petersburg wieder bis vor an die Kante.
    Ravenna hielt den Atem an, als die Leute losbrüllten. Wenn sie sich in die vielen ausgestreckten Arme gestürzt hätte – vermutlich hätte man sie aufgefangen und herumgetragen, wie man es auf Dorffesten gerne mit schönen, jungen Frauen oder Betrunkenen tat.
    »Bleibt zurück! Zurück!«, warnten Lucian und seine Freunde immer wieder. Der große weiße Hengst ließ sich nur mit Mühe bändigen. Ghost stampfte mit den Vorderhufen und wollte sich aufbäumen. Am liebsten wäre er losgestürmt. Er fühlte sich wohl, als sei er mitten in einer Schlacht.
    »Ravenna hat die Frage richtig beantwortet. Doch sie traf zu spät hier ein«, fuhr Beliar fort. »Und das bringt mich in eine sehr unerfreuliche Lage: Ich muss jetzt nämlich entscheiden, wem der Sieg der dritten Runde zusteht!«
    Der Lärm verebbte zu einem anhaltenden Murmeln. Die Leute starrten zur Bühne.
    »Nehmen wir zunächst Vadym!«, fuhr Beliar fort. »Wie Ravenna bereits sagte: Er ist schlau. Er ist witzig. Er hat so lange weitergespielt, bis die Hexe auftauchte – seine härteste Konkurrentin. Aber selbst als klar war, dass Ravenna ihm haushoch überlegen ist, hat er nicht aufgegeben. Er hat weitergekämpft und die magische Landkarte erobert. Und er war als Erster auf dem Montmago. Was meint ihr? Ist das nicht einen Applaus wert?«
    Beifall brandete auf – laut und herzlich. Und er hielt minutenlang an. Vadym starrte auf die Menschen und hatte erneut Tränen in den Augen. Als der Jubel und die begeisterten Pfiffe nicht aufhören wollten, ging Ravenna zu ihm und schüttelte ihm die Hand. Was Beliar gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Außerdem konnte sie den Kummer der Russen nur allzu gut

Weitere Kostenlose Bücher