Tore der Zeit: Roman (German Edition)
verstehen. Einen Freund zu verlieren – das war ein schrecklicher Gedanke.
Vadym wischte sich über die Augen. Dann ging er zu seinen Kameraden und umarmte jeden Einzelnen von ihnen. Besonders dem jungen Vasily klopfte er auf den Rücken. Zuletzt ging er zu Lucian und gab auch ihm die Hand, sehr zu dessen Überraschung.
»Wenn ihr uns noch mal reinlegt, breche ich deiner Chexe den Chals«, drohte er leise, aber Ravenna hörte es trotzdem. Im Sonnenlicht glänzten seine Messingaugen beinahe golden.
Lucian packte sichtlich fester zu. »Daran würde ich nicht einmal denken«, gab er ebenso leise zurück. »Denn ich werde da sein. Verlass dich darauf.«
Vadym ließ seine Hand los und kehrte auf die Bühne zurück. Beliar hob beschwörend die Arme.
»Aber jetzt zu Ravenna!«, rief er. »Ist sie nicht wunderschön? Eine Hexe aus einem alten Geschlecht von Zauberinnen. Eine Magierin, die uns alle mit ihrem Können beeindruckt hat. Sie ist furchtlos, klug und weiß beinahe alles über Hexenkunst – das hat sie bewiesen. Siegerin über drei Runden und das bei der Teufelswette! Doch was bedeutet Ruhm, was bedeutet Erfolg, wenn man von seinen Freunden so aufrichtig geliebt wird wie sie? Seht euch die Sieben an. Sie sind gekommen, um Ravenna beizustehen. Oder nehmt den jungen Mann hier vorne: Lucian würde sein Leben geben, um sie zu beschützen. Und jetzt verratet mir: Wer von euch möchte in diesem Augenblick nicht mit ihr tauschen?«
Zehn- oder fünfzehntausend Arme hoben sich. Zehn- oder fünfzehntausend Stimmen brüllten ihren Namen. Ihr wurde schwindlig. Der Applaus machte ihr Angst, mehr als jeder Trick von Beliar. Diese Menschen waren verrückt, wenn sie glaubten, alles hinge von einer einzigen Hexe ab. Doch wenigstens respektierten sie nun die Absperrung und die großen Pferde.
»Wer erhält also den Preis der dritten Runde?«, fragte Beliar. »Vadym könnte das Rennen gewinnen. Er hat das Zeug dazu. Und er hat recht: Er traf als Erster hier ein. Er hat die zwei Türme auf dem Montmago vor Ravenna gefunden. Sollte ich ihn also wählen lassen?«
Sämtliche Zuschauer, die auf der Seite des Magiers standen, feuerten Beliar an.
»Oder steht diese Wahl eher Ravenna zu?«, rief der Teufel zu den Leuten herunter. »Sie hat die richtige Antwort auf die Frage gewusst. Sie ist mit allen Herausforderungen auf dem Weg hierher fertiggeworden. Spielt es da wirklich eine Rolle, dass sie ein paar Minuten später ankam?«
Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Zuschauer. Sie warteten angespannt darauf, dass Beliar endlich bekanntgab, wie es weiterging. Aber er zögerte die Spannung so lange heraus, bis sich von Neuem Unruhe unter den Leuten ausbreitete.
»Ich sage euch: Ich weiß auch nicht, was gerechter wäre«, seufzte er nach einer Ewigkeit. »Von mir aus könnten beide Kandidaten das Rennen gewinnen. Sie hätten es beide verdient. Aber es kann nur einen Sieger geben. Deshalb hört nun, wie es weitergeht: Sobald der Sieger feststeht, erhält der Verlierer ein letztes Mal die Gelegenheit, dem Gegner den Preis abzutrotzen. Das Ziel des Wettrennens sind diese beiden Türme dort oben, der Turm der Hexen und der Turm der Magier! Wer es bis dort hinauf schafft, ist in Sicherheit. Man muss nur das Losungswort herausfinden, um den Turm zu öffnen. Hinter den Mauern herrscht Burgfriede. Das alles geschieht selbstverständlich nur, wenn Vadym oder Ravenna nicht an dieser Stelle aufgeben. Denn das könnten sie. Der Sieger bräuchte nur das Geld zu wählen statt des alchemistischen Preises, und er wäre frei! Deshalb begrüßt nun meine beiden Helferinnen. Hier sind … die Fürstin der Luft und die Fürstin des Feuers!«
Während die Leute applaudierten, fuhr Ravenna herum. Bestürzt schaute sie zu, wie ihre Schwester das Gerüst erklomm, gefolgt von der dunkelhaarigen Schwarzmagierin. Die Hexen trugen spektakuläre Kostüme. Orianas Gesicht wurde von einer Feder-Larve verdeckt. Yvonnes Maske glitzerte um die Augen. Ihr roter Mund lächelte.
Die beiden jungen Frauen trugen je ein dunkelrotes Kissen, das mit einem Tuch bedeckt war. Einmal umrundeten sie die Bühne und zögerten den Augenblick der Entscheidung ein letztes Mal heraus. Dann gingen sie auf Ravenna zu und streckten ihr die Kissen entgegen.
Die plötzliche Erleichterung ließ Ravenna schwanken. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Niemand sollte erkennen, ob sie Glück oder Entsetzen empfand – oder vielleicht beides. Als sie die Arme wieder sinken ließ,
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