Tore der Zeit: Roman (German Edition)
der Menge auf sie übertrug.
»Ravenna! Weiter so!«, brüllte ein Mann. »Du wirst es schaffen!« Sie erkannte ihn: Es war der Vater, der seine Kinder auf dem Handkarren den Berg hinaufgezogen hatte. Jetzt hingen sie rechts und links an seinem Wams und bestaunten die Hexe im weißen Mantel. Zum Glück hielten Lucian und die anderen Ritter vorne am Podest Wache. Wer wusste schon, was den verrückten Zaungästen des Mittelalters womöglich sonst so eingefallen wäre?
»Vadym! Vadym!«, brüllte ein anderer Zuschauer. »Kennst du den schon? Geht ein Russe eine Wette mit dem Teufel ein …« Der Rest des Witzes ging im Gelächter unter, als einer von Vadyms Freunden ausholte und dem Kerl den Schwertgriff auf den Kopf schlug.
Vadym starrte den Sprecher an. »Macht euch ruhig über mich lustig!«, brüllte er den Spöttern zu. »Die Chexe betrügt doch – merkt ihr das nicht? Eigentlich sollte sie gar nicht auf diesem Podest stehen. Gestern Abend chatte sie nichts mehr, keine Landkarte, kein Geld, und ihr Ritter besaß auch kein magisches Schwert. Wir chaben ihr geholfen! Und zum Dank schummelt sie! Den Weg zu diesen Türmen haben ihr ihre Freunde gezeigt! Sonst chätte sie nie chergefunden!«
»Wäre es dir lieber, Velascos Wölfe hätten uns gefressen?«, gab Ravenna in scharfem Ton zurück.
Thierry stellte sich in den Steigbügeln auf. »Wir können bezeugen, dass alles mit rechten Dingen zuging!«, rief der Filmemacher. »Wir haben Ravenna und Lucian auf dem ganzen Weg von Carcassonne bis hierher begleitet. Sie hat alle Prüfungen bestanden und ist zu Recht hier!«
»Da hörst du es, Vadym«, raunte Beliar beinahe freundlich.
Der Russe stand mit hängenden Schultern da. So nah war der Sieg und die triumphale Rückkehr nach Sankt Petersburg – zumindest hatte er das angenommen.
»Also dann, Vadym«, munterte Ravenna ihn auf. »Es wäre wirklich besser, wenn du dich jetzt besinnst. Du liegst nämlich schon wieder daneben. Die Antwort lautet keinesfalls Twyr Avallon. Und am Artushof befindet sich der Gral auch nicht.«
Der Russe riss sich das Barett vom Kopf und feuerte es mit einem Fußtritt in die Menge. Ein sommersprossiges Mädchen fing die Mütze auf und machte sich sofort davon, um das Andenken vor zahlreichen gierigen Händen zu schützen. Beliar beobachtete die Auseinandersetzung zufrieden.
Das Geschrei verstärkte sich, je länger der Russe zögerte. »Vadym, Vadym – es muss heißen: Montsalvasch«, schrie eine Frau, die Hände wie ein Trichter an den Mund gelegt.
»Nein, nein, die richtige Antwortet lautet: Montsauvage!«, brüllte ihr Nebenmann. »Der wilde Berg.«
»Unsinn!«, rief ein junges Edelfräulein. »Die Gralsburg steht auf dem Berg Montsalvens in der Schweiz. Das weiß ich genau, denn mein Internat befindet sich in der Nähe.«
Verzweifelt wischte Vadym sich über das Gesicht und wiederholte die Namen, die ihm zugerufen wurden. Er klang ratlos.
»Du – lach nicht!«, brüllte einer der Russen drohend zu Lucian herüber. »Sonst sorge ich eigenhändig dafür, dass dir das Grinsen vergeht!«
»Hilf lieber deinem Freund!«, erwiderte der junge Ritter. »Denn es sieht nicht so aus, als wüsste er im Augenblick weiter. Vielleicht habt ihr euch zu früh gefreut.«
Vadym geriet sichtlich ins Schwitzen. Von allen Seiten flogen ihm Ratschläge zu. »Ruhe! Seid endlich still!«, schrie der Magier den Leuten zu. »So kann ich nicht denken!«
Die Unruhe legte sich bis auf ein gelegentliches Räuspern. Vadym ging seine Möglichkeiten an den Fingern durch.
»Montsalvasch ist es nicht. Das wüsste ich«, murmelte er. »Dasselbe gilt für Montsauvage – der wilde Berg. Nein, nein, das klingt nicht überzeugend. Und Montsalvens – Schweizer Gralsritter … hm. Kann ich mir nicht vorstellen.«
Zweifelnd blickte er Ravenna an. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. »Aber natürlich! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen!«, rief er. »Es bleibt nur noch eine Möglichkeit: Es muss der Odilienberg sein. Der Berg, auf dem die Hexen wohnen. Der Zirkel der Sieben.«
Die Hexen drehten die Köpfe. Norani und Esmee, die Heilerin Nevere, Josce die Jägerin, Aveline und die junge Ellis – sie alle blickten zur Bühne. Ravenna rauschte das Blut in den Ohren.
»Eine clevere Idee. Mein Kompliment, Vadym«, sagte sie. »Ich wusste von Anfang an, dass es Spaß machen würde, gegen dich anzutreten.«
»Wie gut, dass du den Weg hierher gefunden hast«, raunte Beliar. Er tauchte plötzlich
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