Tore der Zeit: Roman (German Edition)
zurück. Doch auch die hinteren Zaungäste wollten sehen, was geschah. Sie drängten sich vorwärts, schoben die Vordermänner zur Seite oder schubsten sie den Pferden in den Weg. Die Unruhe, die an den Rändern der Menschenmenge begonnen hatte, verstärkte sich, als sie von immer mehr Menschen erkannt wurden.
Viele Leute hatten Picknickkörbe, Sitzkissen oder in Tücher gewickelte Brote und Käselaibe dabei. Wenn der Wind drehte, roch man, dass die meisten Schaulustigen in feuchten Zelten oder dicht neben Lagerfeuern übernachtet hatten. Zwischen Ochsen, Pferden und Hunden, die sich im Dunkeln dicht an ihre Herren schmiegten.
»Ravenna!«, schrie jemand und boxte sich durch die stehenden Gäste. Drohend lenkte Lucian den Hengst in diese Richtung. Es war nicht eindeutig, ob es sich um einen Fan oder um einen Verrückten handelte.
»Ravenna!«, keuchte der Bursche, ein Müllergeselle, nach dem Mehlstaub in seinen Kleidern zu schließen. Seine Nase war mehrmals gebrochen worden und wieder schief zusammengeheilt. Er streckte die Hand aus, um nach ihrem Pferd zu greifen. Dann blitzte ein Messer in seiner Faust.
Lucian trat ihm fluchend gegen den Arm und hätte ihm zweifellos eine weitere, schmückende Narbe beigebracht. Aber der Angreifer hatte bereits ein Büschel Haare vom Schweif der weißen Stute abgetrennt. »Ich habe eine Haarsträhne!«, brüllte er und reckte die Faust. »Ein Büschel Schweifhaar von ihrem Pferd!«
Ein Verrückter, dachte Ravenna. Nervös starrte sie dem Müllergesellen hinterher.
»Das ist ein Albtraum«, keuchte Lucian. Schweiß glitzerte auf seinem Gesicht, und er umklammerte den Schwertgriff, während er versuchte, alle Seiten im Blick zu behalten. Hände streckten sich nach ihnen aus, berührten sie am Knie, am Unterschenkel und zerrten an ihren Mänteln.
»Macht Platz!«, rief Ramon. »Lasst uns zur Tribüne durch!«
»Ravenna!«, brüllten die Menschen um sie herum.
Immer mehr Leute fielen in das Geschrei ein, bis ihr Name über die Wiese hallte. Eine Frau mit Kopftuch und schmutziger Schürze drängelte sich durch die Umstehenden. Sie schubste jeden zur Seite, der ihr den Weg versperrte. Ihre Gehilfin folgte ihr auf dem Fuß. Ihr Kittel war grau. Das spitze Gesicht der Frau erinnerte Ravenna an ein Wiesel.
Die Garköchin hob die Arme über den Kopf und fing an zu klatschen. »Ravenna!«, brüllte sie. »Du wirst es schaffen! Du wirst beim Rennen siegen!«
Ravenna zwang sich zu einem Lächeln und nickte der Frau zu. Von der anderen Seite arbeitete sich eine Gruppe junger Mädchen bis zu ihr vor. Sie waren ähnlich gekleidet wie sie selbst und hatten sich das Haar zu Pferdeschwänzen hochgebunden. Um ihre Handgelenke und Stirnen waren Kränze aus Wiesenblumen gewunden.
»Ravenna! Ravenna!«, schrien sie.
Fans. Ravenna starrte sie an, bis Willow unter dem Ansturm schwankte und gegen Ghosts silberweiße Schulter gedrückt wurde. Lucian ritt rechts von ihr, ihre linke Seite blieb ungeschützt. Ihre Nachahmerinnen streckten die Hände aus, kreischten, griffen nach ihr – aber was sie eigentlich wollten, ging Ravenna nicht in den Kopf. Noch mehr Menschen drängten nach, genug, um sie samt dem Pferd unter sich zu begraben. Sie hörten nicht, als Lucian ihnen zubrüllte, sie sollten zurückweichen.
Ravenna wagte nicht mehr, sich nach ihren Begleitern umzusehen. Sie umklammerte die Zügel mit beiden Händen und heftete den Blick auf die Bühne. Mit entschlossenen Hackenstößen trieb sie die Stute vorwärts. Am Hufschlag hörte sie, dass die Sieben ihnen folgten.
Der Graf de Barca saß in der Nähe des Podests auf einem faltbaren Stuhl, bewacht von seiner Leibgarde. Der lange Mantel wogte um seine Stiefel. Mit düsterer Miene verfolgte er ihre Ankunft. Eindeutig jemand, der nicht auf ihrer Seite stand, dachte Ravenna.
Beliar blickte ihnen mit einem zufriedenen Lächeln entgegen. Es war die Art von Auftritt, die er liebte. Er war in zeitloses Schwarz gekleidet, ein Edelmann in Samt und Leder. Der Umhang fiel beinah bis zum Boden. Der Rubin in seinem Ohr blitzte auf, sobald er den Kopf bewegte.
Vadym dagegen stand das Elend ins Gesicht geschrieben. Nervös ging er an der Bühnenkante auf und ab.
»Wir waren zuerst hier«, schrie er den Neuankömmlingen entgegen. »Gib dir also keine Mühe, Ravenna. Es spielt keine Rolle, ob du die Antwort auf die Frage der dritten Runde weißt. Sag mir lieber, wo Cezlav ist.«
»Es tut mir leid«, erwiderte Lucian. »Wirklich, Vadym – mein
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