Tore der Zeit: Roman (German Edition)
beiden Auserwählten den jeweiligen Glaszylinder, der anschließend versiegelt und hell ausgeleuchtet wurde. Auch die beiden Kandidaten mussten in ihren Leuchtkreisen Stellung nehmen. Mit wehendem Umhang umrundete Beliar die Installation.
»Meine Damen und Herren, dies ist vielleicht die atemberaubendste, die gewagteste Show, die je im Fernsehen ausgestrahlt wurde!«, rief er. »In wenigen Augenblicken werden unsere beiden Gehilfen in den Projektoren mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert. Lilith und Lucian werden sich vollständig in der Vision verlieren, denn Magie sorgt dafür, dass alles vollkommen real wirkt. Wird es unseren Kandidaten gelingen, die beiden aus ihrem gläsernen Gefängnis zu befreien? Oder müssen wir zusehen, wie die Ärmsten den Verstand verlieren? Seien Sie dabei, wenn es wieder heißt: WizzQuizz!«
Alle im Saal stimmten ein und brüllten den Namen der Show. Ravenna biss auf ihre Unterlippe, bis es wehtat. Mit gesenktem Kopf presste Lucian den Finger aufs Ohr. Offenbar hörte er eine kurze Einweisung der Regie. Lilith badete im Rampenlicht und führte für die Kameras einen zappeligen Tanz auf. Die beiden unfreiwilligen Freiwilligen hörten nicht, was außerhalb der Projektoren gesprochen wurde.
Beliar gab ein Zeichen. Bis auf die künstlichen Fackeln wurde jedes Licht im Saal ausgeschaltet. Atemlose Spannung erfasste die Menge. Der Showmaster eilte eine Treppe hinauf, die hinter den beiden Projektoren stand. Er streckte die Arme aus und hielt die Hände über die Glaszylinder.
Alle Kameras waren nun auf ihn gerichtet. Er schloss die Augen und ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken. Eine steile Falte erschien über seiner Nasenwurzel. Die Sekunden vergingen.
Irgendwann fing Beliar an zu zittern. Er bebte wie ein Gewichtheber, der dreihundert Pfund Eisen über den Kopf stemmt. Dann zuckte er mit dem linken Handgelenk und ließ etwas fallen. Es sah wie ein großes Wollknäuel aus, das durch einen Schlitz in den Zylinder der Rothaarigen glitt. Im Fallen streckte das Wollknäuel lange, haarige Beine aus.
Eine Vogelspinne.
Sie streifte Lilith an der Schulter und kam neben ihrem Fuß auf. Die rothaarige Hexe lachte, weil sie die Berührung gespürt hatte und merkte, dass es nun endlich losging. Dann entdeckte sie die Spinne, die an der Glaswand emporkrabbelte. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske absoluten Grauens. Sie schrie. Und ihr Schrei wurde von allen Lautsprechern des Studios übertragen.
Das war selbst manchen hartgesottenen Fans des WizzQuizz zu viel. Ein Raunen erklang im Saal, die Leute rückten enger zusammen.
Aber Beliar hörte nicht auf. Spinne um Spinne warf er in den Zylinder, bis die Tiere den ganzen Boden bedeckten. Lilith war außer sich. Sie schlug um sich und zog die Knie abwechselnd bis zum Bauch. Doch irgendwie musste sie stehen, wenn sie nicht zwischen den Vogelspinnen auf den Boden rutschen wollte. Die Biester krabbelten übereinander, krochen an Liliths Beinen hoch und fielen immer wieder von der glatten Glasfläche des Projektors.
Es war scheußlich. Ravenna wollte auf das Podest stürzen, um die Ärmste zu befreien, bevor sie völlig durchdrehte. Doch Vadym hielt sie zurück. »Warte! Erst, wenn wir beide so weit sind«, verlangte er.
Ängstlich blickte Ravenna zu Lucian hinüber. Er bekam offenbar nicht mit, welche Szenen sich in Liliths Glaszylinder abspielten. Ihr kam der Verdacht, dass die Projektoren von innen verspiegelt waren. Magisch besprochene Spiegel wahrscheinlich, um Beliars üble Hexerei noch zu verstärken. Plötzlich sah sie, wie Lucian zusammenzuckte. Erst lauschte er, dann stieß er zornige Worte hervor und riss sich das Headset vom Kopf. Es fiel zu Boden, die Lautsprecher quietschten.
Und dann hörten alle im Saal, was er hören musste: die Stimme eines kleinen Jungen.
»Vater, nein! Bitte, Vater! Tut das nicht.«
Dazu Schritte von zwei Personen, die durch ein Gewölbe hallten. Eine der beiden Personen wurde offenbar gegen ihren Willen mitgezerrt. Man hörte es am Keuchen und am Scharren der Füße auf dem Boden. Gemessen am Hall musste der unterirdische Gang riesig sein. Nie zuvor hatte Ravenna einen derart einsamen und verzweifelten Laut gehört.
»Vater! Was habe ich Euch denn getan?«
Es war Lucian. Der achtjährige Lucian, der den grausamen Launen des Burgherrn in den Bergen ausgeliefert war. Seine größte Furcht – Beliar wusste genau, was er heraufbeschwören musste. Lucians Kindheit war grauenvoll gewesen, denn
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