Tore der Zeit: Roman (German Edition)
sein Vater war ein Schlächter. Ein Teufelsanbeter. Velasco, der gefürchtete Hexer von Carcassonne.
»Schluss jetzt!«, rief Ravenna. Sie stürzte auf das Podest und presste die Hände gegen die Luke, hinter der Lilith eingesperrt war. Vogelspinnen huschten über das Glas. Die Biester füllten den Zylinder fast bis zu den Knien der Rothaarigen, ein Gewimmel aus Beinen und faustgroßen Leibern. Die junge Hexe kreischte und schlug mit dem Kopf gegen das Glas. Wie eine in Panik geratene Katze kratzte sie an der Scheibe, während Beliar ihr Spinnen ins Haar, ins Gesicht und auf die Schultern regnen ließ.
»Vater, habt doch Erbarmen!«, schrie der verängstigte Junge, der irgendwo in der Vergangenheit in das Verlies der Blutburg gezerrt wurde. Der erwachsene Lucian hingegen versuchte, den Behälter mit Fäusten und Füßen zu zertrümmern. Als es nicht gelang, warf er sich mit dem Rücken gegen das Glas und presste die Hände auf die Ohren. Ein Schatten wuchs drohend vor ihm empor, während er langsam auf den Boden seines Gefängnisses sank.
»Jetzt hilf ihm doch!«, schrie Ravenna. Aber Vadym befingerte den Glaskäfig genauso hilflos wie sie. Ein schwach glühender Streifen verlief rings um die Luke und der Zylinder prickelte unter ihren Händen. Magie.
Im Saal sprangen immer mehr Menschen auf. »Befreit sie! Holt sie endlich da raus!«, schrien die Zuschauer. Es war ihnen egal, wer nun vorne lag – Hauptsache, das Martyrium der Eingesperrten hatte ein Ende. Die Kameraleute tauschten verunsicherte Blicke, und aus den Augenwinkeln bemerkte Ravenna, wie der Regieassistent hinter den Kulissen entlangrannte und mit einem Klemmbrett fuchtelte. In seiner Hast warf er beinahe ein Stativ um. Hier lief offenbar gar nichts mehr nach Plan.
Sie holte Luft und trat einen Schritt zurück. Mit einer fließenden Bewegung streckte sie den Ellenbogen und spreizte die Finger.
»Blæstanier!« , befahl sie und spürte, wie sich eine magische Woge von ihren Fingerkuppen löste. Einen Lidschlag später bestand Liliths Gefängnis nur noch aus Glasscherben, die für Sekunden knirschend aufeinander balancierten. Dann stürzte der Zylinder in sich zusammen. Ravenna schnappte nach Luft, denn sie erwartete, dass sich ein Schwall Vogelspinnen über sie ergoss. Doch die Viecher waren eine Projektion gewesen – bloß eine von Beliars verfluchten Visionen.
Aufgelöst taumelte Lilith ihr entgegen und warf ihr die Arme um den Hals. Sie schluchzte. Das Publikum schrie auf, zahlreiche Zuschauer sprangen von den Sitzen.
»Ist ja schon gut. Jetzt ist es vorbei«, stieß Ravenna hervor. Sie versuchte sich vom Gewicht der rothaarigen Hexe zu befreien. Gleichzeitig schielte sie zu dem anderen Zylinder hinüber.
Lucian kauerte auf dem Boden seines Gefängnisses. Gnadenlos umriss ein weißes Licht seine Gestalt. Er hockte da, mit den Armen über dem Kopf wie ein Junge, der sein Gesicht versteckt und hofft, er sei unsichtbar. An seinen Schultern erkannte sie, dass er zitterte.
»Hier! Kümmer’ dich um sie!« Sie schob die wimmernde Hexe aufVadym zu. Lilith krallte die Finger in ihre Bluse und wollte nicht loslassen. Ravenna befreite sich mit einem Ruck.
Sie warf einen Blick zu Beliar hinauf. Die scheinbare Anstrengung, mit der er den Fluch wob, war vorgetäuscht; andere zu quälen strengte ihn nicht im Geringsten an. Im Gegenteil, es schien ihm zu gefallen, Lucian auf den Boden des gläsernen Gefängnisses zu drücken und zu demütigen. Der gespenstische Schattenriss des Burgherrn füllte den Zylinder nun zur Gänze aus – noch größer, unmenschlicher und bedrohlicher, als Velasco in Wirklichkeit gewesen war.
Ravenna hob die Hand. Ihr Stoß zielte diesmal nicht auf den Glaszylinder, sondern auf den teuflischen Showmaster.
»Beliar – sieh her!«, rief sie. Der magische Strom formte eine zweite Welle. Sie spürte, wie sich die Kraft um ihre Hand kräuselte. Sie ließ sich formen und ziehen wie ein elastisches Band.
»Adieu!«, rief Ravenna. Als sie das Band losließ, schnellte es nach vorn und flutete den Saal mit Energie. Beliar schmunzelte überrascht, doch plötzlich geriet er ins Taumeln. Mehrere Scheinwerfer hinter ihm fielen aus, und aus den Lautsprechern drang weißes Rauschen. Als die Welle verebbte, war Beliar verschwunden.
»Lucian!« Ravenna fiel auf die Knie und hämmerte gegen die gläserne Luke. Doch ihr Ritter hörte sie nicht und blickte auch nicht auf, als sie dicht vor ihm kauerte. Sie presste die Stirn gegen die Scheibe
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