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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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porös wie Kalkgestein, die Augenhöhlen ausgewaschen. Der Kiefer stand offen. Finger und Zehen waren weggefressen. Nun bemerkte sie auch, woher der Geruch nach Gips und frischem Mörtel kam – er ging von der Leiche aus. Über den toten Körper hatte man Lavendelblüten gestreut, um den Geruch zu überdecken. Reste von strohigem Haar klebten am Schädel, und der Ring des Königs war eingeschmolzen in ein unförmiges Gebilde, das vermutlich die rechte Hand gewesen war.
    »O Gott!« Sie fing an zu würgen. »Genug! Es reicht! Ich habe begriffen.«
    Mit einem schmerzhaften Ruck machte sie sich von Lucian los. Er starrte sie an, die Faust voll krauser, blonder Haare, die im Gegenlicht leuchteten. Mit einer Armbewegung ließ er das Laken wieder über den Leichnam segeln.
    »Constantin starb durch einen Fluch«, stieß er hervor. »Mein König starb durch einen Fluch. Nicht der Felsblock hat ihn getötet, sondern das, was mein Vater mit dem Stein gemacht hatte. Kein einziges Mal in seinem Leben hat Constantin schwarze Magie gewirkt. Aber der verdammte Fluch hat ihn getötet. Das passiert, wenn man Schadenszauber wirkt! Hast du das jetzt endlich kapiert? Man verpfändet seine Seele dem Teufel! Und jetzt sag mir noch einmal, Yvonne: Welche Art von Zauber hast du über mich geworfen, um mich in dein Bett zu kriegen?«
    »Du hast mich für sie gehalten. Für Ravenna.« Ihre Stimme klang schrill. »Ich musste gar nichts tun. Es ist einfach passiert. Du hast dich im Schlaf hin und her gewälzt und ihren Namen gemurmelt. Also habe ich mich neben dich gelegt. Und dann, als wir uns aneinanderschmiegten und du mir den Namen meiner Schwester ins Ohr geflüstert hast … verflucht, ich habe mit dir geschlafen, weil ich dich mochte. Und ich mag dich immer noch.«
    Sie biss sich auf die Lippe. Schon wieder sagte ihr verräterischer Mund Worte, die ihr Verstand am liebsten zurückgehalten hätte. Irgendetwas stimmte an diesem Abend nicht, sie besaß nicht dieselbe Selbstbeherrschung wie sonst. Die kühle Sicherheit einer Hexe.
    Als Lucian auf sie zukam, in Kettenhemd, Lederstiefeln und mit dem Schwertgurt quer über Brust und Hüfte, erkannte sie den Mann nicht wieder, den sie damals im Halbschlaf verführt hatte.
    »Zuneigung hat nicht das Geringste damit zu tun«, fauchte er. »Du mochtest Ravenna auch und hast ihr das früher manchmal gesagt. Jetzt schau dich an – du bist die Hure des Teufels geworden. Ich habe bei einer Hure gelegen, und jetzt trägt eine Hure meinen Sohn aus!«
    Rötlicher Nebel engte Yvonnes Gesichtsfeld ein. »Du Scheißkerl«, schrie sie. »Du arrogantes Arschloch! Was glaubst du, wer du bist? Maledicco! «
    Als sie den Stab aus der linken Hand schnalzen ließ, raste ein Ball aus Feuer auf Lucian zu. Im selben Moment stöhnte sie auf, denn sie erkannte, dass sie Ravennas Ritter getötet hatte. Sie hatte sich nicht genug beherrscht. Der Schmerz, die Wut und die gefährliche Nähe des Tors hatten sie aus der Fassung gebracht. Nun raste der Todesfluch einer Hexe auf ihn zu.
    Er duckte sich nicht weg, versuchte nicht auszuweichen, sondern blieb einfach stehen. Erst in letzter Sekunde bemerkte Yvonne die magische Geste, die er mit den Fingern formte, eine alte druidische Gebärde. Ihr Kraftstoß traf auf das Feld, das er blitzschnell hochzog, eine Ausbuchtung des Stroms, die ihn wie ein leuchtendes Wabenmuster umgab.
    Der Aufprall ließ ihn wanken. Der Fluch zerschellte in einem Ring geladener Teilchen, einer farbigen Schockwelle, die über den Schutzschild schwirrte. Wie dunkler Staub wehte die Verwünschung ins All, weit über die Grenzen der Turmkammer hinaus.
    Sämtliche Kerzen waren erloschen. Über Lucians Gestalt war ein einzelner Stern erschienen, ein großes, helles Objekt, das in der Dunkelheit erstrahlte. Es schien unendlich weit entfernt , unwirklich und gespenstisch, denn es widersprach der Logik des gemauerten Raums, der niedrigen Decke.
    Die Sekunden verstrichen. Das Herz pochte gegen Yvonnes Rippen. Sie wagte kaum zu atmen, während der bittere Rauch der Dochte aus dem Fenster wehte. Ravennas Ritter stand eine Ewigkeit so da, unfähig, sich zu bewegen. Er sah selbst unwirklich aus, eine Gestalt aus Licht und Schatten, während der Schimmer des Sterns auf seine Schultern fiel.
    Weiße Magie. Als hätte er geahnt, dass es ihm den Tod gebracht hätte, wenn er ihren Angriff mit schwarzer Hexenkunst zurückgeschlagen hätte. Sie wären beide gestorben, sie, das Kind und alle Anwesenden im Turm.
    Als der

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