Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Stern langsam verglühte, wurden die erdigen Farben des Raums allmählich wieder erkennbar. Lucian hielt die Spannung in den Armen, bis auch der letzte Rest Magie verglüht war. Dann taumelte er plötzlich und glitt ohne Vorwarnung zu Boden.
»Bleib weg von mir!« Mit der Schwertscheide stieß er sie zurück, als sie zu ihm eilen wollte. Er zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war verschwitzt.
»Es tut mir leid. Das habe ich nicht gewollt.«
»Lügnerin.« Lucian stützte die Schultern gegen den Sockel von Constantins Totenbahre. Sie kauerte vor ihm, das Haar ein einziges, aufgelöstes Durcheinander. Das Schwert hielt sie davon ab, sich ihm an den Hals zu werfen. Es lag zwischen ihnen wie eine Drohung, auch wenn Lucian im Augenblick zu kraftlos wirkte, um die Klinge zu halten.
»Komm mir nicht zu nahe«, warnte er sie wieder. »Auf keinen Fall, Hexe, wirst du mir noch einmal zu nahe kommen.«
»Schick mich nicht weg! Ich will heute Nacht hierbleiben.« Wieder jammerte sie, ohne es vorgehabt zu haben. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Reiß dich zusammen, Yvonne! Du bist Beliars Muse, die Wächterin des Feuers und eine Zauberin. Was ist bloß los mit dir?
Als sie den Mund öffnete, hörte sie sich stockend sagen: »Da sind … da sind zwei Stimmen in mir. Zwei … Wirklichkeiten. Die alte Yvonne und eine … eine Kraft, die ich nicht kenne. Sie macht mir Angst, Lucian. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wer ich bin.«
»Ich glaube dir kein Wort«, erwiderte der Ritter kalt. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Du spielst mir etwas vor. Vielleicht spielst du auch dir selbst etwas vor. Aber keine Sorge: Ich schicke dich ganz sicher nicht weg. Du wirst hier bei uns bleiben, doch über eines solltest du dir im Klaren sein: Du hast hier keine Freunde mehr.«
Er stemmte das Schwert auf den Boden und zog sich hoch, schwankend wie ein Betrunkener. Auf die Waffe gestützt, bückte er sich und hob einen Kerzenhalter auf.
Yvonne blieb auf dem Boden sitzen, die Arme um die Knie gelegt, während Lucian die Dochte wieder anzündete, einen nach dem andern. Er ging sehr sorgfältig vor, bis alle Lichter um den toten König wieder brannten. Dann drehte er sich um.
»Ich hatte dich gewarnt. Norani hat dich gewarnt. Verdammt, die Sieben haben dich gewarnt. Aber du warst zu eingebildet, um auf uns zu hören. Zu stolz auf deine Fähigkeiten. Man spielt nicht mit Magie. Niemals. Es sei denn, man möchte sterben.«
»Ich will nicht sterben! Ich will nicht enden wie Constantin! Bitte hilf mir!«
Die eine Stimmeflehte in ihr. Ihre schwache Seite winselte, während sie auf allen vieren über den staubigen Boden kroch, eine Hand nach Ravennas Ritter ausstreckend.
Sie hielt inne. Hob die Faust und schlug sich so hart auf den Mund, dass die Lippe aufplatzte. Blut floss aus dem Riss hervor und tropfte auf die Dielenbretter. Blut besudelte das Oberteil ihres Kleids.
Lucian starrte sie schockiert an. Yvonne lächelte. Ihre andere Seite lächelte, nahm etwas Blut auf und steckte sich den Finger herausfordernd zwischen die Lippen. »Ich will mit Nevere sprechen«, verlangte sie wieder. »Ich habe Fragen an die Heilerin, die nur sie und mich etwas angehen.«
»In Ordnung.« Ravennas Ritter näherte sich wie auf Eierschalen. »Ich werde Nevere holen. Du hast recht, du solltest mit ihr sprechen. Denn du bist krank, Yvonne, sehr krank. Beliar hat dich vergiftet, und wer weiß, was mein Vater mit dir angestellt hat. Ich helfe dir, wenn du das möchtest. Ich rufe Nevere. Ich hole Ravenna her, hörst du? Nur leg das Messer weg.«
Was denn für ein Messer?, wollte Yvonne fragen. Dann merkte sie, dass sie ihren Hexendolch gezogen hatte. Langsam näherte sie die Klinge ihrer Kehle. Ihre andere Seite presste die Schneide der Athame unter ihr Kinn. Sie spürte die scharfe, dünne Kante auf der Haut. Idiotischerweise lächelte sie. Das Kind in ihrem Leib strampelte und trat sie in die Leistengegend.
»Gib mir den Dolch«, flüsterte Lucian. Er streckte die Hand nach ihr aus. Nun kauerte Ravennas überheblicher Ritter doch auf dem schmutzigen Fußboden und kroch Stück für Stück auf sie zu. »Beliar hat dir einen bösen Streich gespielt. Uns beiden. Uns allen. Aber das ist es nicht wert. Das ist es nicht wert, Yvonne. Gib mir die Hexenklinge. Dann hole ich die Heilerin.«
Sie schüttelte den Kopf. Eine Seite in ihr wollte die Schneide durchziehen. Diese Seite sagte ihr, sie könne nicht sterben –
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