Tore der Zeit: Roman (German Edition)
niemals, solange Ardor magyca in ihren Adern floss. Das magische Feuer. Ihr Blut würde den Pakt besiegeln, den Pakt mit der uralten Macht der Elemente. Dann würde sie sein, woraus der magische Stab beschaffen war – das reine Feuer. Die andere Stimme warnte sie jedoch, ein Schrillen im Innenohr, das sie irritierte. So wie der junge Mann, der vor ihr kniete und ihr die Hand entgegenstreckte.
»Velasco?« Ihre Finger zitterten, als sie die angebotene Hand ergriff. Die Finger waren warm, der Griff sicher und fest. Der Händedruck des Hexers fühlte sich anders an, weniger … lebendig.
»Yvonne. Sieh mich an.« Das war Lucians Stimme, weich und dunkel. Der Sohn, nicht der Vater. »Du musst das nicht tun.«
Sie hielt sich an ihm fest und presste sich zugleich das Messer an die Kehle. Ihr Verstand, ihr Körper – alles funktionierte zweidimensional. Sie konnte nicht sterben. Nur daran wollte sie glauben. Anderseits war sie so gut wie tot.
»Nein. Ich muss das nicht tun. Aber ich habe keine Freunde mehr. Meine Schwester hat sich von mir abgewendet. Und ich bin eine Hure. Deine Hure.«
Lucians Arm legte sich fest um ihre Schultern. Sie ließ ihn nicht an das Messer herankommen. Ihre andere Seite erlaubte nicht, dass er ihr die Klinge wegnahm.
»Yvonne, hör zu … es tut mir leid. Manchmal sagt man irgendwelche Dinge, wenn man sich aufregt. Ich war ungerecht. Ich habe nicht gleich erkannt, dass Beliar dir das angetan hat. Er steuert deine Gedanken – hörst du? Jetzt leg den Dolch weg. Leg ihn einfach auf den Boden. Schaffst du das?«
Ihre Atemzüge klangen wie ein raues Keuchen. »Er will mir das Kind wegnehmen«, stieß sie hervor. »Wenn ich ihm nicht gehorche und tue, was er verlangt, wird Beliar mir das Kind wegnehmen. Bevor es geboren ist, verstehst du, Lucian? Bevor es zur Welt kommt!«
Die mächtige Seite in ihr stieß zu. Sie wollte sich den Dolch durch die Kehle rammen, bevor dieses aufsässige, dumme Gör, das jetzt die Führung übernommen hatte, alles verdarb. Aber eine Faust legte sich um ihre Hand und presste ihre Fingerknöchel zusammen, bis sie den Dolch mit einem Schmerzensschrei fallen ließ.
Mit einem Tritt schleuderte Lucian die Klinge quer durch den Raum. Dann zog er sie zu sich heran und umklammerte sie mit beiden Armen. »Marvin«, brüllte er. Aus dem Erdgeschoss antwortete ihm ein erschrockenes Bellen. »Hol Nevere her! Mach schnell! Wir brauchen Nevere.«
»Er will mir das Baby wegnehmen«, schluchzte Yvonne. »Beliar hat damit gedroht, mir meinen Sohn wegzunehmen, wenn ich dich und Ravenna nicht bis vor dieses Tor locke.«
Sie verlor plötzlich die Selbstbeherrschung, die sie die ganze Zeit wie ein Korsett eingeschnürt hatte. Gefühle drängten an die Oberfläche, die lange unterdrückt gewesen waren.
»Ravenna, Ravenna«, wimmerte sie. »Ach, Lucian – es tut mir so schrecklich leid.«
Mit dem ganzen Gewicht seines muskulösen Körpers drückte er sie zu Boden, zudem trug er ein schweres Kettenhemd. »Marvin, verdammt noch mal!«, schrie er.
Für Sekunden erschien ein erschrockenes Gesicht im Türrahmen, das einem rothaarigen Mann gehörte, und ein grauer Hund tauchte neben ihm auf.
»Lauf schon! Mach schnell!«, fuhr Lucian den Späher an. »Beliars Fluch verliert seine Wirkung! Wir haben die Chance, Yvonnes altes Selbst zu befreien. Aber ich brauche Nevere. Oder Norani. Nein – am besten beide. Aber auf keinen Fall Ravenna. Sie ist blutsverwandt und darf hiervon nichts mitkriegen. Und nun lauf!«
Marvin rannte los, gefolgt von seinem schattenhaften Begleiter.
Yvonne krümmte sich. Sie spannte alle Muskeln an, dehnte ihren Körper wie einen Bogen und versuchte sich zu befreien. Sie kratzte Lucian, bis ihr seine Hautfetzen unter den Nägeln hingen. Da spürte sie einen Gegenstand unter sich, ein dünnes Schilfrohr oder einen geknickten Zweig. Ein Ding, das nicht auf dem Fußboden liegen sollte. Sie verdrehte den Kopf, bis sie erkennen konnte, was es war.
Ardor magyca. Ihr Stab – das Zepter, das ihr Kraft verlieh.
Sie zitterte. Die Augen wollten ihr aus den Höhlen quellen. Denn ihr Stab war zerbrochen, in der Mitte geknickt wie ein Holzspan. Die Enden sahen zerfasert aus. Es musste passiert sein, als sie Ravennas Ritter verflucht hatte. Maledicco – sie hatte ihm ihre ganze Wut entgegengeschleudert, die Macht einer Hexe auf die Spitze einer Nadel konzentriert. Ihr eigener Fluch hatte den Stab zerstört.
Sie hatte das magische Feuer
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