Tore der Zeit: Roman (German Edition)
verloren.
Nachtwache
»He! Nun gib doch Acht!«
Ravenna blickte die Sprecherin erstaunt an. Ellis fegte das Salz, das sie unabsichtlich auf dem Tisch verstreut hatte, mit der Hand zusammen und füllte es sorgfältig zurück in das kleine Fass.
»Salz zu verschütten bringt Unglück«, erklärte die junge Hexe.
»Das wusste ich nicht«, murmelte Ravenna. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und faltete die Hände über ihrem Gürtel. Sie hatte so viel gegessen, dass sich ihr Magen wie eine kleine, feste Kugel anfühlte.
Im zweiten Stockwerk des Hexenturms hatte sie eine gedeckte Festtafel erwartet. Wie es im dreizehnten Jahrhundert üblich war, hatte man aus den Speisen Bildwerke geformt: Die Buchweizengrütze wurde in einem geschnitzten Boot gereicht, verziert mit essbaren Blumen. Löffel waren wie Ruder in den Brei getaucht. Ein Dolch, ein Holzlöffel und die Finger – Gabeln waren im dreizehnten Jahrhundert noch unbekannt. Auf die Grütze folgte ein Reisgericht, das mit Feigen, Datteln und Granatapfelkernen gewürzt war. Ein weiterer Gang, die sogenannte Weiße Speise, duftete verführerisch nach Ziegenmilch, Mandeln und zarten Hühnerstücken. Daneben war eine Pastete aus Flusskrebsen angerichtet, deren knusprige Hülle wie ein Schalentier geformt war. Als Josce hineinschnitt, quoll eine goldgelbe, schaumige Sauce heraus. Zum Dessert gab es Pfannkuchen mit einer Füllung aus wilden Beeren, dazu Bratäpfel und glasierte Kastanien.
Ravenna gab sich mit hemmungsloser Lust dem Essen hin. Sie kannte Berichte von mittelalterlichen Banketten, die über Tage andauerten. Nun erkannte sie, dass es keine Übertreibungen waren. Bei jedem Bissen sagte sie sich: Das ist die Entschädigung für den Schrecken in Carcassonne. Für die Nacht auf dem kalten Felsen. Für das Losreiten ohne Frühstück. Für Bucheckern mit Würmern drin. Für das Eingesperrtsein in der Schmiede.
Zwischendurch ließ sie den Blick über die prunkvollen Wand teppiche gleiten, die die Mauern der Turmkammer schmückten. Die Gobelins waren auf Stangen aus Eschenholz aufgefädelt und hingen an eisernen Haken. Ein Wandbehang zeigte die Festungsstadt von Carcassonne. Der Fluss schlängelte sich um den Burgfelsen, gestickt aus Silberfäden. Zweiundfünfzig Türme ragten in der Wehrmauer auf. An allen vier Ecken war der Teppich mit Quasten versehen. Ein anderer Teppich stellte eine Krönungsszene dar. Der zukünftige Herrscher kniete in einem Lichtstrahl. Die Krone schwebte über seinem Kopf. Das Gefolge im Hintergrund war nur angedeutet. Ein dritter Wandteppich zeigte eine Reiterin, die im Damensattel saß. Sie trabte durch Farne, Fingerhut und Schachtelhalm und trug ein grünes Gebinde. Die Zügel und das Zaumzeug waren aus Gold. In der Hand trug sie eine Schlüsselblume.
Eine Schlüsselmeisterin, dachte Ravenna und verzog den Mund. Falls die Jungfer hoch zu Ross eine Tormeisterin darstellen sollte – sie selbst hatte nie so im Sattel gesessen. Sie hatte gefroren und gehungert, war nass und schmutzig geworden und halb verrückt vor Angst. Falls Beliar seine Kandidaten mit dieser Festtafel dafür belohnen wollte, dass sie es so weit geschafft hatten – ihr sollte es recht sein.
»Ravenna! Schläfst du mit offenen Augen? Reich mir die Klöße!«
Sie zuckte zusammen, als Josce ihren Namen rief. Die Klöße waren auf einem Bett aus Kraut und geröstetem Speck angerichtet. Als sie danach griff, hatte sie versehentlich das Salzfass umgestoßen. Und damit eine Kettenreaktion ausgelöst.
»Verschüttetes Salz!«, schnaubte Norani. Die Wüstenhexe funkelte sie über den Tisch hinweg an. »Du solltest dein Missgeschick wenigstens bedauern, statt so verständnislos zu schauen. Und was ist mit euch?«, wandte sie sich an die anderen Hexen. »Habt ihr eure Sachen schon durchsucht?« Fragend blickte sich Norani in der Runde um. »Und? Irgendetwas entdeckt? Einen kaputten Becher? Einen verbogenen Löffel? Oder ein zerbrochenes Ei?«
Josce schüttelte den Kopf. Die schöne Esmee stützte das Kinn in die Hand und gähnte. Ihre Lippen glänzten vom Fett. Das Mädchen Aveline wischte die Finger an ihrem Rock ab.
»Einer meiner Socken hat sich aufgetrennt«, meldete Ellis. »Offene Maschen und ein loser Faden. Ich weiß aber nicht, wie schwerwiegend das ist.«
Norani schüttelte den Kopf. »Das Pech, das einem durchgescheuerten Socken anhaftet, reicht nicht aus für das Ausmaß der Katastrophen, die uns getroffen haben. Was ist mit dir?«
Die letzte Frage
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