Tore der Zeit: Roman (German Edition)
hing ihr wirr ins Gesicht. »Was soll ich jetzt tun?«
»Der Rabe wird dir helfen, das alchemistische Ei zu öffnen«, erklärte Elinor. »Nimm ihn auf die Hand. Siehst du? So.« Sie machte es vor. Behutsam schob Ravenna die Hand unter den Vogel und gab ihm Gelegenheit, auf ihren Arm zu hüpfen. Der lange, scharfe Schnabel in der Nähe ihrer Augen machte sie nervös.
»Jetzt zeig ihm das Ei«, befahl Elinor.
Die Rabe balancierte auf ihrer Hand, als sie den Arm ausstreckte. Dann legte er den Kopf schief und schaute das Behältnis an. Plötzlich zuckte der Schnabel vor und stieß mit einem hellen Klang gegen das Gefäß.
»Was macht er? Was hat das zu bedeuten?« Allmählich wich ihre Beklemmung der Faszination. Raben galten als äußerst klug und lernfähig. Wozu hatte Elinor diesen Albino-Vogel abgerichtet?
»Er will, dass du das Ei drehst.«
Behutsam beugte Ravenna sich vor, fasste den Stiel des Kelchs und drehte das Gefäß. Wieder pickte der Schnabel gegen das Silber. Sie drehte weiter. Hin und wieder wendete der Rabe den Kopf und starrte sie an. Seine roten Augen schienen niemals zu blinzeln.
»Mach weiter«, forderte Elinor sie auf. »Du solltest das Rätsel lösen, bevor es hell wird.«
Ravenna warf einen Blick zum Fenster. Über dem gezackten Band des Waldes glitzerten die Sterne. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Von den Vögeln auf den Stangen und in den Käfigen kam nur selten ein Laut.
»Was willst du mir zeigen?« flüsterte sie dem Raben zu. Sie streichelte ihn, ließ den Finger über das weiche Gefieder an der Brust gleiten, so wie sie es bei Elinor beobachtet hatte. Die Schwingen fühlten sich dagegen steif und fest an, knisterten unter ihrer Berührung.
Ping! Wieder stieß der Schnabel des Vogels gegen das Gefäß.
Sie drehte es noch eine Handbreit weiter. Und zuckte zusammen, als der Vogel krächzend aufflatterte. Mit raschelndem Gefieder ließ er sich auf dem Ei nieder. Er beugte sich vor und nahm etwas in den Schnabel – eine Art Knopf, der an dem Gefäß befestigt war. Weil er an der Unterseite lag, war er Ravenna zuvor nicht aufgefallen.
Sie beugte sich vor. Ein Totenschädel – der Rabe pickte in die leeren Augenhöhlen eines Schädels. Gänsehaut breitete sich an ihren Armen aus. Sie blickte zu Elinor auf.
»Bist du sicher, dass das keine Falle ist? Beliar wäre sicher froh zu hören, dass sein Fluch uns beide vernichtet hat.«
»Er braucht uns«, entgegnete die Marquise gelassen. »Aber er würde unsere Kräfte gerne kontrollieren, wenn er könnte. Willst du den Kelch nun öffnen oder nicht?«
Ravenna rieb die kalten Finger aneinander. Sie konnte nicht leugnen, dass sie vor dem unbekannten Inhalt Angst hatte. Die anderen Etappensiege hatten ihr nichts als Schrecken und Schwierigkeiten eingebracht. Ihr wollte kein Grund einfallen, weshalb es diesmal anders sein sollte.
»Nimm das Ei in die Hand«, riet ihr Elinor. »Dann legst du beide Daumen auf den Punkt, den der Rabe dir gezeigt hat, und übst sanften Druck aus. Gleichzeitig wiederholst du folgenden Spruch.«
Ravenna lauschte auf die fremd klingenden Worte. Sie sollte die Beschwörung nachsprechen, aber es fiel ihr schwer. Die Worte fühlten sich im Mund seltsam an. Bis sie begriff, dass sie rückwärts sprach.
Sie stöhnte auf, denn sie musste an das Mädchen am Seinekanal denken, dem sie und Lucian begegnet waren. Daran, wie sie die schwarze Magie aus der kleinen Rattenbeschwörerin herausgeschüttelt hatte.
Was ist nur aus mir geworden?, dachte sie, während sie die Hände um das Ei legte.
Der weiße Rabe flatterte auf und landete auf der Fensterbank. Elinor verschränkte die Arme. »Wenn du einen Bann aufheben willst, besteht die einzige Möglichkeit darin, das Geschehene rückgängig zu machen. Natürlich hat Beliar das Gefäß magisch verschlossen. Worauf wartest du also noch?«
Das Ei war schwer und fühlte sich kühl an. Ravenna tastete mit den Daumen am unteren Rand entlang, bis sie den Totenschädel spürte.
»Has hcid hci roveb, tsraw ud saw, redeiw edrew«, sprach sie. Es fiel ihr leichter, wenn sie sich vorstellte, dass es Russisch war. »Tsraw ud saw, redeiw edrew!« Sie drückte mit den Daumen zu, bis ein Klicken ertönte. Der Deckel hatte sich gelockert. Nun konnte sie ihn drehen und mit zwei, drei Bewegungen abschrauben.
Im Innern kam ein weiteres Ei zum Vorschein. Es war genauso wie das erste – bloß kleiner. »Zum Kuckuck!«, rutschte es ihr heraus. »Was soll das denn jetzt?«
»Mach es
Weitere Kostenlose Bücher