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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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plötzlich hervor und presste die Hand auf den Mund. Sie musste an Lucian denken, an die seltsame Erschöpfung, mit der er die Treppe zur Pariser Wohnung der Russen hinaufgeschlichen war. An seinen irren Blick, als die Aaswölfe vor ihm flohen. Und an ihre eigene bleierne Müdigkeit, nachdem ihr Fluch die Angreifer auf dem Hohlweg vertrieben hatte.
    Das geschah also, wenn man schwarze Magie anwendete: Man wurde von innen aufgezehrt. So war es allen ergangen, die sich der Schadenszauberei zugewendet hatten: Velasco, Oriana und Yvonne. Und nun stand sie vor der Wahl, selbst diesen Schritt zu tun.
    Mit einem Ruck stand sie auf und trat zu dem vergitterten Fenster. An einer Seite befand sich ein kleiner Haken. Er ließ sich leicht bewegen. Sie klappte das Gitter zur Seite und lehnte sich weit über die Brüstung. Der Nachtwind löste eine Strähne aus ihrem Haar und zerrte daran. Steil fiel die Mauer des Turms unter ihr ab. Dann folgte der Berghang. Am Fuß des Abhangs glühten Lagerfeuer, ein oranges Sternenfeld im Dunkeln.
    Ihr wurde schwindlig. Als sie den Kopf drehte, konnte sie das Tor sehen. Es spannte sich über den Gipfel des Montmago. Es war gigantisch, ein Dom aus heißem Gas, das lautlos in den Himmel sprudelte.
    Und dann sah sie es.
    Jenseits der Blasen und Schlieren flackerte ein unendlich ferner und doch vertrauter Umriss: der Eiffelturm. Die Stahlkonstruktion war kaum mehr als eine Fata Morgana, die wie Rauch zwischen den Türmen wehte. Die Erscheinung flackerte, verblasste und baute sich langsam von Neuem auf. Das fünfbeinige Stahlgerüst verbog sich in den Wogen aufsteigender Magie, und auch wenn es nur eine optische Täuschung war: Der Turm schien zu flattern wie ein Stück Stoff bei Sturm.
    »Erkennst du es jetzt?«, raunte Elinor dicht hinter ihr. »Das Tor hinter dem Tor? Spürst du die Kraftströme, die Beliar miteinander verbinden möchte? Auch wenn wir dann alle sterben könnten?«
    Ravenna drehte den Kopf. »Der Turm? Der Eiffelturm ist ein Tor?«
    Die Hexe vom Hœnkungsberg nickte. »Es ist das Haupttor in deiner Welt. Begreifst du nun, was der Teufel von dir möchte?«
    Stumm starrte Ravenna auf die Erscheinung. Der im Tor aufsteigende Dunst reflektierte das ferne Lichtgewitter. Die Zukunft schien so nah – und war doch unerreichbar.
    »Es ist wunderschön, nicht wahr?«, fuhr Elinor fort. »Beängstigend. Und tödlich.« Die Marquise stützte die Arme auf die Fensterbank.
    »Was fühlst du, wenn du in die Tiefe blickst? Man bekommt Angst, nicht wahr? Zugleich möchte man sich hinabstürzen. Ein paar Sekunden freier Fall. So ist es auch mit dem Strom. Die Magie lockt uns an. Gleichzeitig wird sie uns vernichten. Deshalb dürfen die Tore niemals über einen längeren Zeitraum offen stehen. Beliars Tat war Wahnsinn.«
    »Und jetzt fürchtet er, die Kontrolle zu verlieren«, murmelte Ravenna. »Deshalb ruft er uns alle hier zusammen. Weil er begreift, dass er zu weit gegangen ist. Vielleicht hofft er, die Sieben würden ihm beistehen, wenn etwas schiefgeht.«
    »Nicht die Sieben«, sagte Elinor weich. »Sondern du.«
    Die Marquise stieß sich von dem Fensterrahmen ab und ging zu einem Holzpult. Es stand in einem Nischenbogen. Eine dicke Wachskerze brannte auf dem Tisch. In ihrem Schein lagen ein aufgeschlagener Kodex, ein Tintenfass und ein Lederbecher mit einem Bündel Federkiele.
    Elinor nahm auf dem Bänkchen Platz und schlug die Beine übereinander. Der Rabe hüpfte von ihrer Schulter auf eine Stange, die am Tisch befestigt war. Die Hexe zog den Handschuh aus und fing an, in dem Kodex zu blättern. Schließlich schnippte sie mit den Fingern und streckte auffordernd die Hand aus. Mit dem Schnabel zog der Rabe eine der Federn aus dem Behälter und streckte sie seiner Herrin hin. Die Hexe vom Hœnkungsberg tauchte sie in das Fass und begann, sich Notizen zu machen. Die Federspitze kratzte über das Pergament.
    »Was müsste ich tun?«, fragte Ravenna heiser. »Was muss ich tun, um das Wesen der Schwarzkunst zu begreifen?«
    Elinor beendete ihre Eintragungen und benutzte eine Art gebogenen Stempel mit saugfähiger Unterseite, um die Tinte zu trocknen. »Du musst schwören«, erklärte sie, während sie den Kodex schloss. »Schwöre, dass du mich zu Morrigan führen wirst, sobald diese Sache überstanden ist!«
    Ravenna leckte sich über die Lippen. Das wird jetzt Lektion eins, sagte sie sich. Ein falscher Fluch, einer Schwarzkünstlerin gegenüber geleistet. Sie berührte ihr drittes Auge mit

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