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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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diesen Berg folgen zu können, hat sie alle möglichen Mittel angewendet, um die Geburt hinauszuzögern. Kräuter. Sitzbäder. Tees. Und Magie. Nun ist es beinahe zu spät.«
    »Soll das etwa heißen, dass sie sterben wird?« Ravennas Stimme überschlug sich fast.
    Yvonne war hier. Endlich, nach Monaten zermürbender Suche, hatte sie ihre Schwester aus Beliars Fängen befreit. Und nun brachten ihr ihre Freunde schonend bei, dass Yvonne in Lebensgefahr schwebte?
    »Ihr wird nichts passieren, wenn wir sie nur rechtzeitig in ein Krankenhaus bringen«, versuchte Lucian Ravenna zu beruhigen. »Offenbar ließ mein Vater weder Ärzte noch Hebammen in ihre Nähe. Wir werden das jetzt ändern.«
    »Ich habe sie heute vor Tagesanbruch noch einmal untersucht«, warf Nevere ein. »Sie hat Wehen. Es wird noch eine Weile dauern. Aber das Baby kommt auf jeden Fall noch heute zur Welt.«
    Ravenna presste die Lippen aufeinander. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie es um Yvonne stand. Nun ballte sie die Fäuste, sodass sich die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handballen gruben. Das Tor, dachte sie. Wir müssen so schnell wie möglich durch dieses Tor gehen. Und zwar ohne dabei zu sterben.
    »Ich bin hier, wenn du mich brauchst«, raunte Lucian ihr zu. »Wir stehen das gemeinsam durch. Hörst du?« Das Sonnenlicht ließ sein Gesicht jetzt hell aufleuchten. Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt. Weit weg vom tödlichen Einflussbereich des Tors.
    Sie nickte. Dann ging sie zu Yvonne. »Alles klar mit dir? Ich habe gehört, was passiert ist.«
    Ihre Schwester bekam nur schwer Luft. Ihre Lippen hatten einen beängstigend violetten Farbton angenommen. Sie sah aus wie jemand, der an einer schweren Vergiftung litt. Außerdem hatte sie Kratzspuren im Gesicht.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie. Ravenna zuckte zusammen, so unerwartet kam dieses Eingeständnis.
    Yvonnes Kinn zitterte. »Es war falsch, was ich getan habe. Das weiß ich jetzt endlich. Es tut mir furchtbar leid.«
    »Darüber reden wir später.« Ravenna konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme kühl und zurückhaltend klang. Zwischen ihnen beiden war zu viel passiert. Viel zu viel.
    »Jetzt kommt es erst einmal darauf an, dass wir dich medizinisch versorgen. Hörst du? Wir kehren heute nach Paris zurück und bringen dich in eine Klinik.«
    »Ich kann verstehen, wenn du mir nie mehr verzeihen kannst«, brach es aus Yvonne hervor. »Wenn du dich von mir abwendest und mich hier zurücklässt … ich hätte nichts anderes verdient. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Alles ungeschehen machen. Aber das geht nun mal einfach nicht. Obwohl wir Hexen sind.«
    »Ja«, murmelte Ravenna, »obwohl wir Hexen sind.«
    Yvonne griff nach ihrer Hand. Sie wich zurück. Es geschah unwillkürlich, nicht aus böser Absicht. Norani beobachtete ihre Begegnung aus einigen Schritten Entfernung.
    Verdammt, dachte Ravenna. Sie blieb stehen, ohne den Händedruck zu erwidern. Nicht so schnell, dachte sie. Das geht zu schnell. So einfach schüttelt man nicht ab, was geschehen ist.
    Yvonne starrte sie an. Tränen schwammen in ihren Augen. Ein Tropfen löste sich vom Wimpernrand und lief ihr über die Wange. Plötzlich bemerkte Ravenna, dass der Elfenbeinstab, den sie so oft befingert hatte, nicht mehr an ihrem Gürtel hing.
    Sie wandte sich dem Knappen zu. Calvin, sie erinnerte sich. Ein Cousin von Marvin, dem Späher mit dem grauen Hund. Die Verwandtschaft war an dem feuerroten Haarschopf zu erkennen. »Könnt ihr meiner Schwester beim Gehen helfen? Du und noch jemand? Schafft ihr das – bis hoch zum Tor?«
    Calvin nickte. Er zögerte kurz. Dann kramte er in seinen Taschen und gab ihr eine Visitenkarte. Möge der Bessere gewinnen , stand da in blauer Tinte. Die Schrift stammte eindeutig von Beliar.
    »Das hat der Bote gebracht.« Calvins Stimme klang verunsichert. »Heute vor Sonnenaufgang. Er hat uns mitgeteilt, dass wir alle zum Set kommen sollen. Die Sieben, die Ritter – eben alle.« Dann schaute er Ravenna stirnrunzelnd an. »Was ist ein Set?«
    Ravenna ließ sich den Mantel geben und raffte den warmen Pelz um sich. »Das ist der Ort, an dem die Entscheidung des WizzQuizz fällt«, murmelte sie.
    Gemeinsam stiegen sie über die sanft ansteigende Wiese zum Tor hinauf. Wie zwei stumme Wächter ragten die Bergfriede aus der Flanke des Montmago. Das Banner der Hexen wehte von ihrem Turm. Es war an Fahnenstangen dicht unter der Turmkrone angebracht und zeigte das achtspeichige Hexenrad.

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