Tore der Zeit: Roman (German Edition)
nochmal«, wies Elinor sie an. »Dieselbe Prozedur. Derselbe Spruch.«
Im zweiten Ei steckte ein drittes und in dem dritten ein viertes. Beliar veräppelt mich, dachte Ravenna, als sie das fünfte Ei aus dem Behälter schüttelte. Sie hockte mittlerweile zwischen lauter silbernen Schalen, wie ein frisch geschlüpftes Küken im Nest. Mutlos drückte sie auf den nächsten Totenkopf.
»Tsraw ud saw, redeiw edrew!«
Das Ei fiel in ihrem Schoß auseinander. Ein Armreif rutschte heraus, besetzt mit roten Edelsteinen. Auf dem Rand waren Feuerblüten zu sehen.
»Mein Siegel!«, keuchte Ravenna. Mit klopfendem Herzen nahm sie den Hexenschatz in die Hand. »Wieso schickt mir Beliar mein Siegel?«, murmelte sie.
Das unerwartete Geschenk machte sie misstrauisch. Sie schloss die Augen. Die Stelle zwischen ihren Brauen wurde heiß, als sie den Reif mit dem dritten Auge musterte. Sie sah einen schimmernden Kreis. Die Feuerrosen glühten. Durch die Öffnung, die für ihr Handgelenk gedacht war, strömten Fäden der Magie.
Das offene Tor zerrte an dem Ring. Ravenna sah es ganz deutlich – dieselbe Kraft, die durch das riesige Portal rauschte, floss auch durch ihr Siegel. Kalte Magie löste sich aus den Edelsteinen am Rand, zog eine Leuchtspur zum Tor auf dem Montmago. Doch die Steine wurden von Sekunde zu Sekunde kleiner.
Keuchend riss sie die Augen auf. »Die Kraftsteine schrumpfen. Was hat das zu bedeuten?«
Elinor lehnte neben dem offenen Fenster. Das lose Ende ihres Turbans fiel ihr über die Schulter. Der Rabe wetzte seinen rosafarbenen Schnabel an der Fensterbank.
»Beliar will unbedingt, dass du in dieses Tor trittst«, sagte sie. »Er kann es dir nicht befehlen. Wenn du dich weigerst, kann er nichts dagegen unternehmen. Also verschafft er dir einen Grund, es freiwillig zu tun. Einen ziemlich überzeugenden Grund, würde ich sagen. Wenn es dir nicht gelingt, das Tor zu schließen, wirst du deine Gabe verlieren.«
Ravenna starrte auf den Hexenring. Mit offenen Augen sah sie nichts, aber sie spürte tief im Innern, wie das Tor an ihr zerrte. Die Gabe der Tormeisterin zerrann unwiderruflich.
Der Ring, in die Nähe des Torfelds gebracht … es lief ihr eiskalt über den Rücken. Offenbar wollte Beliar diesmal aufs Ganze gehen. Seine Botschaft war jedenfalls eindeutig.
Halte die Zeit an. Oder du wirst sterben.
Die weiße Feder
Als Ravenna den Turm der Hexen verließ, dämmerte der Morgen über den Bergen. Der Wind wehte vom Tal herauf. Die Sieben und ihre Gefährten versammelten sich auf der Anhöhe, Schattenrisse gegen den glühenden Horizont. Schweigend warteten sie auf den Tagesanbruch.
Ravenna ging zu ihren Freunden.
»Wie hast du geschlafen? Hast du überhaupt geschlafen?«, rief Aveline ihr entgegen. »Du siehst müde aus.«
Ravenna antwortete mit einem Schulterzucken. Sie umklammerte ihr Siegel. Den Ring der Tormeisterin. Sie spürte, wie die magische Kraft daraus entwich. Langsam, aber unaufhaltsam.
»Wo warst du?«, wollte Esmee wissen. »Du warst gestern Abend plötzlich verschwunden. Dabei hatten wir uns noch so viel zu erzählen.«
Norani musterte sie. Ihr Gesicht lag im Morgenschatten. »Ja, Ravenna. Wo warst du?«
»Ich …« Sie zögerte. Sollte sie ihre Freundinnen belügen? Die Sieben, die ihr doch erst alles über Magie beigebracht hatten. Das Eingeständnis, dass Elinor sie in der gefürchteten und gehassten Schwarzkunst unterwiesen hatte, war jedoch eindeutig schlimmer. Schaudernd erinnerte Ravenna sich an das Hexengericht und die Wut der Sieben, die Yvonne gegolten hatte.
»Ich war oben im Turm. In der Falknerei«, gab sie zu.
Norani starrte sie an, die grünen Katzenaugen zu schmalen Schlitzen verengt. »Falknerei? Ich wusste gar nicht, dass im Turm Falken gehalten werden.«
»Ist aber so«, gab Ravenna zurück. »Falken und Singvögel. Ich habe mich eben umgesehen.«
Norani schwieg. Fröstelnd wandte Ravenna sich an die anderen Hexen. »Kalt hier«, murmelte sie und rieb die Hände aneinander. »Warum wartet ihr nicht im Turm?«
»Wir wurden gerufen«, sagte Aveline. Die Jüngste der Sieben starrte hinunter ins Tal.
»Gerufen?«, echote Ravenna.
»Ein Bote war hier«, erklärte Ellis. »Er sagte, wir sollen uns bereit machen.«
Ravenna zog die Schultern hoch und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte kaum geschlafen, hatte den Rest der Nacht auf dem Bänkchen an Elinors Schreibpult verbracht, mit dem Auswendiglernen von Bann- und Lösesprüchen beschäftigt. Elinor hatte
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