Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Stimmung verflog allerdings, als sie die Journalisten entdeckte, die vor dem Hotel warteten.
»Presseleute! Bestimmt ein halbes Dutzend!«, murrte sie. Ratlos blieb sie in der Lobby stehen und schaute auf die Straße hinaus. Der Boden der Eingangshalle bestand aus spiegelglattem Marmor. Ein Kronleuchter hing von der Decke, und eine bequeme Sitzecke lud zum Ausruhen ein. Man hatte sie und Lucian in einem ausgesprochen vornehmen Hotel untergebracht. In einem teuren Hotel.
»Bestimmt warten die nur darauf, dass wir mit dem Koffer in der Hand aus dem Hotel kommen. Das ist doch Wahnsinn!« Nicht einmal im Traum hätte sie mit einem derartigen Medieninteresse gerechnet. Gewiss – das Quiz der Zauberer wurde live im Fernsehen ausgestrahlt. Aber es war nur eine mäßig beliebte Rateshow, über deren Absetzung in regelmäßigen Abständen spekuliert worden war. Bevor Vadym auf der Bildfläche erschien. Und sie und Lucian.
Sie atmete tief durch. Wie sollte sie ungestört herausfinden, wie man den alchemistischen Koffer öffnete, während sie auf Schritt und Tritt verfolgt wurde?
»Bestimmt hat dieses Haus einen Hinterausgang«, bemerkte Lucian. Wie so oft dachte er praktischer als sie.
»Gute Idee«, nickte Ravenna. »Man könnte glatt meinen, du hast das schon öfter gemacht.«
Lucian zuckte mit den Achseln. »Sagen wir, ich musste mich schon öfter durch feindliche Burgen schlagen. Es ist ratsam, ein paar Schlupflöcher zu kennen.«
»Du siehst müde aus«, bemerkte sie, während sie kehrtmachten und das Foyer durchquerten. »Und das an einem so schönen Morgen.« Lucian trug den Koffer für sie. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und elegant geschlungenem Schal wirkte er wie ein Geschäftsmann. Oder wie ein Schauspieler. Alles in allem sah er wesentlich zeitgemäßer aus als Vadym in seinen Klamotten aus dem neunzehnten Jahrhun dert. Als Antwort auf ihre Frage brummte er etwas von schlechten Träumen.
»Tut mir leid«, murmelte Ravenna. »Ich bin schuld. Ich habe dich in diese Show geschleift und dir den Albtraum deines Lebens beschert. Die Herausforderung in dem Projektor – das hätte nicht passieren dürfen.«
Lucian verzog keine Miene.
Als sie an der Rezeption vorbeigingen, sprach sie der Concierge an. »Madame Doré? Ich habe eine Nachricht für Sie.« Aus einem Fach mit ihrer Zimmernummer nahm der Empfangschef einen zusammengelegten Zettel.
Ravenna faltete das Papier auseinander. Wir kriegen dich! , stand da in krakeliger Handschrift. Wir werden dir den Koffer wieder abjagen! Komm nur – wir warten auf dem Chexenmarkt auf dich!
Ravenna rieb sich die Schläfe. Die Schreibfehler deuteten auf einen Verfasser hin, der des Französischen kaum mächtig war. Ein russischer Falschspieler, schätzte sie.
»Wer hat das abgegeben? Haben Sie den Kerl gesehen?« Mit spitzem Finger schob sie den Zettel über den Tresen.
Der Concierge las und wurde rot. »Ich … wie konnte das passieren! Eine Drohung gegen einen unserer Gäste – das gab es noch nie. Es ist mir sehr unangenehm.« Unauffällig entsorgte er die Nachricht im Papierkorb. »Der Überbringer war ein ungefähr zwölfjähriger Junge. Das sind die Aufnahmen der Überwachungskamera.«
Er drehte einen Bildschirm zu ihr herum und drückte eine Taste, sodass die bläulichen Aufnahmen zurückspulten, bis man einen Jungen in einem geringelten Pullover sah. Verstohlen schlich er durch die Hotelhalle. Dann legte er den Zettel auf den Tresen und verschwand so schnell wie ein Dieb.
»Ein Bote«, meinte Lucian. »Vadym traut sich nicht persönlich hierher. Lieber schickt er diesen Burschen.« Er war hinter ihr stehen geblieben und hatte alles gesehen.
Ravenna zog die Schultern hoch. Irgendwo in der Stadt warteten die russischen Magier auf sie – und ihr blieb nichts anderes übrig, als durch die Straßen zu streifen und zu hoffen, dass sie zufällig auf die Lösung des alchemistischen Rätsels stieß.
Sie wandte sich an den Concierge. »Bevor wir gestern zum Sender fuhren, gab ich Ihnen etwas zur Aufbewahrung. Wenn Sie das bitte für mich holen würden?«
Der Concierge verschwand in einem Nebenraum. Kurz darauf kehrte er mit einem Säckchen aus glänzendem Satin wieder. Er überreichte es, als wären Kronjuwelen darin. Ravenna nahm das Säckchen und stopfte es in ihre Manteltasche. »Danke sehr. Und nun hätte ich noch eine letzte Bitte.«
Sie nickte in Richtung der wartenden Journalisten, die vor dem Hotel auf und ab gingen. Sie hatten die Hände in den
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