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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Bergen. Der Kailash zum Beispiel: Er ist über sechstausend Meter hoch. Manche halten ihn für den Mittelpunkt des Universums. Oder für das Zentrum eines heiligen Mandalas. Ich kann mir bloß nicht erklären, warum ausgerechnet Gress dorthin pilgern will.«
    Lucian schmunzelte. Es hatte durchaus Unterhaltungswert, sich den behäbigen Kommissar bei der Umrundung eines über sechstausend Meter hohen Gipfels vorzustellen.
    Als das Handy wieder zu summen begann, streckte er den Arm aus, um danach zu greifen. Seine Hexe stieß einen überraschten Laut aus. Dann berührte sie ihn unter dem linken Schulterblatt.
    Lucian sog zischend Luft zwischen den Zähnen hindurch. Ein stechender Schmerz wühlte sich in seine Schulter, wie von einer glühenden Klinge, die ihm jemand mit voller Wucht unter die Achsel stieß. Das Handy glitt ihm aus der Hand. Es fiel unter das Bett und brummte dort noch einige Minuten lang weiter.
    »Verdammt, Ravenna! Was soll das?«, keuchte er.
    Gekränkt von seinem Tonfall, rückte sie ein Stück von ihm ab. »Was hast du da? Diese Stelle an deiner Schulter … seit wann hast du diese Narbe? Die ist mir noch nie aufgefallen.«
    »Das ist nichts Besonderes«, brummte Lucian. »Ein Muttermal. Es wäre mir sehr recht, wenn du in Zukunft deine eiskalten Finger bei dir behältst.«
    »Meine Finger sind überhaupt nicht kalt«, murrte Ravenna. »Ich weiß nicht, was plötzlich in dich gefahren ist. Du bist doch sonst nicht so empfindlich.«
    Sie schwang die Beine aus dem Bett und griff nach dem Bademantel. Während sie ins Bad ging und die Tür hinter sich zuknallte, ließ Lucian den Kopf zwischen die Arme sinken. Die Stelle an seiner Schulter loderte wie eine frisch entzündete Stichwunde. Wie ein bösartiger Dorn bohrte sich der Schmerz in seinen Rücken.
    Als es auch nach ein paar Minuten nicht besser wurde, stand er auf und ging zum Fenster. Mit einem Ruck stieß er beide Flügel auf. Ein Windstoß wirbelte Eiskristalle ins Zimmer. Sie setzten sich auf seine Haut und schmolzen. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Balkon mit schmiedeeisernem Geländer. Lucian trat ins Freie. In tiefen Zügen atmete er die Winterluft ein. Dann sammelte er eine Faust voll Schnee und presste ihn auf das Mal, das Ravenna berührt hatte.
    Der Schnee linderte den Schmerz. Lucian drehte die Schulter ins Licht, um die Stelle in der reflektierenden Fensterscheibe zu betrachten. Dicht unter dem Schulterblatt war eine feine Narbe zu sehen, geformt wie eine Hand, die nach seinem Herzen griff. Die Linien endeten in einem gekrümmten, mit einem Stachel bewehrten Schwanz. Es war kein Muttermal, er hatte seine Hexe schamlos belogen.
    Aber wie hätte er Ravenna beibringen sollen, woher dieses Zeichen stammte?
    Dunst waberte über das Fenster. Als Lucian mit der Hand über die beschlagene Scheibe wischte, erschien das Bild seines Vaters: ein zorniger Burgherr mit stechenden Augen, dunklem Haar und einem schmalen, bleichen Gesicht. Die Tatsache, dass Lucian das Haar in Ravennas Welt kürzer trug als im Mittelalter, verstärkte die Ähnlichkeit mit Velasco noch.
    Er sammelte mehr Schnee auf und rieb sich so lange über das Gesicht, bis seine Wangen brannten und er keuchte. Doch die Ähnlichkeit ließ sich weder abwaschen noch leugnen. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dasselbe Blut strömte durch ihre Adern. Und sie waren beide dem Teufel geweiht – dafür hatte Velasco gesorgt, als er ihm das Mal mit glühendem Draht in die Haut schmolz.
    Lucian umklammerte das Geländer des Balkons und senkte den Kopf. Einen Augenblick kämpfte er gegen den Impuls an, die Stirn gegen das Fenster zu rammen und das spiegelnde Glas zu zerschmettern. Der Hexer von Carcassonne schien ihn zu verhöhnen – selbst in dieser Nacht, da sie eine Zeitspanne von mehr als sieben Jahrhunderten trennte.
    »Ich werde dich finden«, drohte er seinem Spiegelbild an. »Ich werde dich aufspüren, und wenn diese Jagd mein ganzes Leben dauert. Dann werde ich beenden, was mein König begonnen hat. Das schwöre ich, so wahr ich hier stehe.« Mit einem Ruck löste er sich von dem Anblick und drehte sich zur Stadt herum.
    Ganz Paris breitete sich vor dem Balkon aus. Lucian betrachtete die angestrahlten Paläste und Monumente, die unzähligen Brücken, die vorbeirauschenden Fahrzeuge in den Prachtstraßen, die trägen Kähne auf der Seine und den Eiffelturm, der in diesem Augenblick in silbernes Funkeln gehüllt war. Das Hotel lag direkt am Fluss, gegenüber

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