Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Dann erst begriff sie, was sie da sagte.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Ihre Finger schlossen sich um den Stab Ardor magyca. Im ersten Augenblick fühlte sie einen stechenden Schmerz, als die Macht des Zepters durch ihre Adern strömte. Dann breitete sich wieder das Wohlbehagen in ihr aus. Die Verzweiflung schmolz, und aus Angst wurde Zuversicht.
Sie seufzte behaglich und stand auf. Auf einem Tisch unter dem hohen Bogen des Buntglasfensters türmten sich Bücher und Gerätschaften für ihre alchemistischen Experimente. Oft saß sie stundenlang da und versuchte, tiefer in die Geheimnisse der Hexenkunst zu dringen. Sie nahm vor dem matten Spiegel Platz und löste die Frisur mit den Fingern.
Ravenna wird sich wundern, dachte sie, während der Kamm durch ihre widerspenstigen Locken sirrte. Das Mittelalter war nicht länger die Welt, die ihre Schwester von früheren Zeitreisen kannte – die Welt der weißen Hexen. Machtverhältnisse hatten sich verschoben, neue Bündnisse waren geschmiedet worden, Fürstentümer waren gefallen oder neu errichtet worden. Ihre Schwangerschaft war nur ein Steinchen in einem viel größeren Mosaik. Denn sie alle bereiteten sich auf die Rückkehr des Teufels vor.
Die Hand mit dem Kamm hielt inne. Im Spiegel schaute sich Yvonne ins Gesicht und versuchte zu lächeln. Doch die ungleichmäßig bearbeitete Silberfläche verzerrte ihr Abbild zu einer Fratze mit loderndem, weißblondem Haar.
Sie legte den Kamm beiseite. Ohne dass sie es wollte, formte ihr Mund die Worte: Du tust mir leid.
Unten im Innenhof zerstreuten die Schwarzmagier die Menge auf dieselbe herzlose Weise, wie sie die Leute zusammengetrieben hatten. Die Feuer wurden erstickt, und die halbgaren Schweine den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Während das Tor der Vorburg wieder geöffnet wurde und die Menschen in ihre Häuser zurückkehrten, brach das Wintergewitter los. Blitze und dröhnender Donner durchzuckten den Schneesturm. Die Dächer verschwanden hinter wirbelndem Weiß.
»Das hat die Hexe getan«, raunten die Leute einander zu. »Habt ihr gesehen, wie schrecklich sie neben unserem Herrn stand? Wenn Yvonnes Schwester auch nur halb so viel Macht besitzt, sind wir verloren.«
»Das ist Unsinn«, widersprach der Jäger Diego. »Velasco hetzt uns bloß gegen seinen Sohn auf. Die Hexe Ravenna ist eine der Sieben. Sie würde der Stadt niemals Schaden zufügen.«
Doch die Leute in seiner Umgebung schüttelten die Köpfe. »Wir sollten auf diese Wette eingehen, auch wenn mir der Buchmacher nicht gefällt«, stieß der Sohn des Schmieds hervor, ein kräftiger Bursche von neunzehn Jahren. Er trug eine abgewetzte Lederschürze. Seine Fäuste und die Nasenspitze waren vom Ruß geschwärzt. »Wenn dieser Lucian hier auftaucht, werde ich ihn erwischen und in Ketten legen. Dann bringe ich ihn rüber zum Schloss.«
Der Fassbinder seufzte. »Wir haben ohnehin keine andere Wahl. Gewiss wird Velasco jeden zur Doña ins Loch stecken, der seinem Sohn ein Versteck bietet oder ihm zur Flucht verhilft.«
»Velasco ist ein Verbrecher«, stieß der Jäger hervor. Schnee sammelte sich auf seiner Hutkrempe. Seine Augen lagen im Schatten. »Er will Rache nehmen – das ist doch offensichtlich. Ganz gleich, was wir tun: Unter seiner Herrschaft wird es uns nicht besser gehen.«
»Der arme junge Herr!«, wisperte die Zwirnerin. »Wehe ihm, wenn er seinem Vater in die Hände fällt! Und wir Armen, die in diesem schändlichen Spiel gefangen sind! Wenn wir uns weigern, werden wir hingerichtet, und wenn wir uns an der Hatz beteiligen, ist es unser eigener Untergang. Denn Velasco die Krähe wird auch in hundert Jahren noch über diese Festung herrschen. Sollen wir denn ewig für ihn tanzen? Maledicco – verwünscht sei seine schwarze Seele!«
»Hört auf zu fluchen!«, mahnte der Glasmaler, der es eilig hatte, in sein Atelier zurückzukehren. »Seht ihr denn nicht, dass dort oben auf den Zinnen Soldaten stehen? Sie starren schon die ganze Zeit zu uns herunter.«
Die Garnzwirnerin und ihre Freundinnen zogen die Köpfe ein und beeilten sich, in ihre Häuser zurückzukehren. Der Jäger zog den Hut tiefer in die Stirn und schlenderte leise pfeifend an der Mauer entlang. Die restliche Menge zerstreute sich. Die fahrenden Händler und die Edelleute aus der Umgebung brachen in Richtung Brücke auf, denn das Gerücht machte die Runde, dass der neue Herr die äußeren Burgtore schließen lassen würde. Wer konnte,
Weitere Kostenlose Bücher