Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Vanessa hatte ihm eine Frage gestellt. Während sie ihre Worte wiederholte, starrte sie ihn durchdringend an. Er konzentrierte sich rasch, für den Fall, dass sie Gedanken lesen konnte.
»Ja, selbstverständlich kenne ich Yvonne«, antwortete er. »Wir sind uns in Straßburg begegnet.«
»Und wie fanden Sie sie? Ich meine, wie war Ihr erster Eindruck?«
Lucian gönnte sich zwei, drei Atemzüge, um nachzudenken. Vielleicht war Vanessa Chanterel gerissen genug, ihre Fragen vorher mit Beliar abzusprechen. Vielleicht jedoch stand sie einfach nur in Konkurrenz zum Erfinder des WizzQuizz, weil ihre Show zur selben Zeit einen Sendeplatz bei einem anderen Kanal belegte.
»Sie ist außergewöhnlich«, erklärte er und spürte, wie Ravenna vor Erleichterung tiefer in die Sofakissen sank. »Genau wie ihre Schwester«, fügte er hinzu.
Vanessa belohnte ihn mit einem langen Blick, den sie ihm unter falschen Wimpern hindurch zuwarf. »Wissen Sie, Lucian, das sind Sie auch«, gurrte sie. »Gestatten Sie mir die Frage, wo Sie beide sich kennengelernt haben?«
Er hatte gewusst, dass sie das fragen würde. Deshalb erwiderte er ganz ruhig: »Auf einem Berg im Elsass. Ravenna wollte einen Ausritt unternehmen, und ich habe sie begleitet. Ich kannte die Gegend ein wenig besser als sie.«
Er hörte, wie seine Hexe leise nach Luft schnappte. Es war ein Maimorgen des Jahres 1253 gewesen. Aber danach hatte Vanessa schließlich nicht gefragt.
Vanessa nickte, wobei sich kein Haar an ihrer Helmfrisur bewegte. »Ich erinnere mich, dass es dort vergangenen Sommer einen Vorfall gab. Meine Mädels in der Redaktion haben vor der Sendung ein bisschen recherchiert. Und fanden das hier.«
Auf einer Leinwand im Hintergrund wurden Zeitungsausschnitte eingeblendet. Junge Frau aus Straßburg vermisst , schrien sie die Schlagzeilen an. Mit einer Bewegung ihres Zeigefingers ließ Vanessa immer neue Artikel aufscheinen. Ravenna Doré nach mehreren Tagen wohlbehalten aufgetaucht. War es Liebeskummer? Dann folgte: Satanistenmord! Verdächtige in Psychiatrie eingewiesen. Daneben prangte ein Foto, auf dem Ravenna von mehreren Polizisten aus einer Villa geführt wurde. Man hatte ihr Handschellen angelegt. Sie starrte ängstlich in die Kamera.
»Ich war unschuldig«, stieß sie hervor, als sie Vanessas fragend-anklagender Blick traf. Hastig griff sie nach ihrem Wasserglas. »Das stellte sich aber erst nach ein paar Wochen heraus. Ein Justizirrtum. Die Polizei hat sich bei mir entschuldigt.«
»Ganz genau«, bestätigte Vanessa Chanterel. »Und beschuldigte stattdessen Ihre Schwester. Man hat Yvonnes Fingerabdrücke bei dem Opfer gefunden. Angeblich gehört sie einem schwarzmagischen Zirkel an. Könnte da nicht ein Zusammenhang zu ihrem Verschwinden bestehen?«
Die Sekunden verstrichen. Die Kameraleute und selbst der Regisseur blickten hinter ihren Geräten hervor und schienen auf eine Enthüllung zu warten. Auf Ravennas Zusammenbruch möglicherweise und ein geschluchztes Geständnis. Aber da kannten sie Lucians Hexe schlecht.
»Meine Schwester würde so etwas niemals tun«, erklärte Ravenna mit fester Stimme. »Nie und nimmer würde sie zulassen, dass ein anderer Mensch durch ihre magische Gabe zu Schaden kommt. Yvonne ist eine Wicca. Das bedeutet, sie ist eine weiße Hexe. Eine von den Guten. Wir standen uns sehr nahe. Yvonne ist auf gar keinen Fall eine Satanistin und sie hat auch nichts mit dem Mord zu tun.«
»Wo waren Sie denn in dieser Zeit?«, wandte sich Vanessa wieder an Lucian. »Was haben Sie getan, während Ravenna in der Klinik war?«
Sie ist eine Natter, stellte er fest. Eine falsche Schlange, die vorgab, nur das Beste ihrer Gäste im Sinn zu haben.
»Ich habe Tag und Nacht nach ihr gesucht«, erklärte er leise. »Im Grunde habe ich schon immer nach einem Menschen wie Ravenna gesucht und ich schätze mich glücklich, dass wir uns schließlich begegnet sind. In meiner … Familie ist es üblich, dass man der Frau, die man erwählt, ein Leben lang treu bleibt. Wahrhaftigkeit, Standfestigkeit und Mut – das sind Werte, mit denen ich groß geworden bin. Das gilt auch für unsere Beziehung.«
Der König hatte ihm beigebracht, wie man in unerfreulichen Gesprächen gefährliche Klippen umschiffte. Antworte gelassen und sag nur das, was du wirklich sagen willst, hatte er ihm und Ramon immer wieder eingeschärft. Constantin war in dieser Hinsicht ein Meister. Nach vielen Jahren auf dem Thron war seine Zunge erheblich flinker als sein
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