Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Yvonne.
Ravenna starrte ihre Schwester an und rang nach Luft. Nach all der Aufregung und Angst war das plötzliche Wiedersehen wie ein Schock für sie. Es verwirrte Ravenna, und sie geriet in Panik – eine tiefe Furcht packte sie, dass dieses Zusammentreffen nicht wirklich geschah.
Sie streckte die Hand aus und berührte den Saum des Kleids. Erst als sie den Stoff unter den Fingern spürte, ihre verdreckte, zerschrammte Hand auf der Borte liegen sah, fing sie an zu begreifen. Das hier passierte wirklich.
»Yvonne«, brachte sie hervor. »O Gott, Yvonne.«
Ihre Schwester war wunderschön. Feuerschein schimmerte auf goldener Seide. Ein Stab aus Elfenbein lag in Yvonnes Schoß. In ihren kostbaren Kleidern sank sie neben Ravenna auf die Knie, schlang die Arme um sie und hüllte sie mit Erinnerungen an früher ein, als sie einfach nur Schwestern gewesen waren – ganz ohne erwachte Hexengaben.
»Schhh … nicht weinen«, flüsterte Yvonne. Sie strich Ravenna über die wirren Haare, die sich längst aus dem Gummi gelöst hatten. »Alles wird gut, hörst du? Alles wird wieder gut.«
Die unerwartete Umarmung bewirkte, dass Ravenna erneut krampfartig aufschluchzte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, am Ende mit den Nerven. Zwischen zwei Atemzügen versuchte sie Fragen zu stellen und die Verkettungen unglücklicher Umstände zu schildern, die sie in diese Kammer geführt hatten. Aber es kam nur ein verworrenes Stammeln über ihre Lippen.
»Ist schon okay«, murmelte Yvonne und fuhr fort, sie zu streicheln. »Du musst mir nichts erklären. Jetzt bist du hier. Das wolltest du doch, oder? Du wolltest unbedingt wieder ins Mittelalter zurückkehren. Das ist dir gelungen.«
Mit einem Ruck hob Ravenna den Kopf. »Ich rede von Lucian, verdammt«, stieß sie hervor. »Das Problem ist, dass er auch hier ist – begreifst du? Im Schloss seines Vaters. Wenn Velasco ihm auch nur ein Haar krümmt …«
Sie verstummte. Was würde sie dann tun? Nichts vermutlich. Sie konnte gar nichts tun, denn sie wusste nicht einmal, wohin die Wachen Lucian geschleppt hatten.
Sie setzte sich auf. Eine unruhige, wabernde Atmosphäre beherrschte den Raum. Das Flackern kam nicht allein von den Flammen im Kamin. In dieser Kammer war erst kürzlich Magie geflossen, das spürte sie deutlich. Sie schaute sich um.
Der Raum bestand aus nackten, sandsteinfarbenen Wänden und hatte drei Bogenfenster aus Buntglas. Draußen im Schlosshof herrschte tiefe Nacht. Unter einem der Fenster stand ein hölzerner Esstisch, zusammen mit mehreren Stühlen. In der gegenüberliegenden Ecke befand sich ein gemauerter Alkoven mit einem breiten Bett, auf dem Kissen und Decken lagen. In den offenen Truhen herrschte eine vertraute Unordnung, ebenso auf einem zweiten, kleineren Tisch, der vor einem silbernen Spiegel stand.
Ravenna bemerkte zahlreiche Utensilien, die dort standen: Retorten, Ampullen und Mörser, Stößel und Siebe, saubere, gefaltete Leintücher sowie ein Stövchen und eine Waage mit winzigen Gewichten. Ein hohes, schlankes Gefäß dampfte unaufhörlich vor sich hin.
»Wo sind wir hier? Ist das dein Zimmer in der Burg des Teufels?« Sie konnte den bissigen Unterton nicht unterdrücken. Der Gestank des Kerkers haftete an ihren Kleidern und ihren Händen. Der Prunk, in dem Yvonne lebte, kam ihr seltsam vor. Irgendetwas war falsch daran.
Bei ihrem Tonfall zog Yvonne eine Augenbraue in die Höhe. Ein gereizter Zug erschien um ihren Mund. »Kaum angekommen und schon hast du an der Art, wie ich lebe, etwas auszusetzen? Ach, Ravenna. Sehr verändert hast du dich in der letzten Zeit nicht.«
»An der Art, wie du jetzt lebst? Du meinst das hier?« Ärgerlich bewegte Ravenna den Arm in einer ausladenden Geste über die Kammer. »Ist dir in den vergangenen Wochen nicht der Gedanke gekommen, wir könnten uns Sorgen machen? Unsere Eltern sind schier wahnsinnig vor Angst. Mutter tut kaum noch ein Auge zu. Und Lucian und ich, wir suchen seit Monaten – hörst du: Monaten! – nach dir.«
Yvonne blieb auf dem Boden sitzen. Das goldene Kleid bauschte sich um ihre Taille. Fiebrige Flecken zeigten sich auf ihren Wangen, und sie hatte Gewicht zugelegt. »Du und Lucian«, höhnte sie. »Ganz bestimmt macht sich dein Ritter Sorgen. Nein, Ravenna, da täuschst du dich wohl. Ich bin mir sicher, Lucian ist heilfroh, mich los zu sein.«
»Du kennst ihn doch kaum!«, herrschte Ravenna ihre Schwester an. Als sie den Ausdruck aufYvonnes Gesicht wechseln sah, biss sie sich auf die Lippe.
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