Tore nach Thulien 3 : Ferner Donner (German Edition)
wollte sich den Resten des alten Gemäuers von hinten nähern, einen kurzen Blick riskieren und dann im Rücken der Skorpione weiter in Richtung Zollfeste ziehen. Wenn alles nach Plan verlief, hatte sie Holmanns Hall in weniger als einer halben Stunde hinter sich gelassen und würde morgen früh wieder auf Tristan und die anderen treffen.
Leise schlich sie gebückt nach Osten, bis die rauen Felsvorsprünge aufhörten und wieder Gras und Heidekraut den Boden bedeckten. Langsam arbeitete sie sich dann die Anhöhe nach oben. Immer wieder machte sie dabei kurz halt und lauschte mit all ihren Sinnen in die beginnende Dunkelheit hinaus. Trotz der inneren Anspannung und der Gefahr, die zwar nicht sichtbar, aber dennoch zum Greifen nahe war, fühlte sie sich wohl. Das Kleid der Nacht schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut und es passte hervorragend. Wie immer eigentlich. Sie war jetzt in ihrem Element und durfte endlich wieder voll und ganz Schattenkriegerin sein. Wie hatte sie dieses Gefühl vermisst.
Unbehelligt erreichte sie schließlich den Rücken der Anhöhe. Sie legte sich ausgestreckt auf den Boden und beobachtete. Nichts war zu sehen, doch irgendwo links, aus dem Dunkel der Ruine, erklangen Stimmen. Sie wirkten ausgelassen und ab und an hallte ein dumpfes Lachen durch die zerstörten Flure und Keller von Holmanns Hall.
Wart ihr so jämmerliche Schüler oder hattet ihr einfach einen schlechten Lehrer? Shachin verstand nicht, wie sich die Skorpione in ihrem Nest nur so sorglos geben konnten. Sie fühlten sich offenbar sehr sicher. Für einen flüchtigen Augenblick musste sie an den Meister der Klingen denken. Sie war ihm früher schon einmal begegnet, und damals hatte er nicht den Eindruck gemacht, ein Mann zu sein, der Nachlässigkeiten dieser Art duldete.
Du bist nicht hier! Die Erkenntnis ließ ein sachtes Lächeln über ihr Gesicht huschen. Sie wusste, dass es so war, eine andere Erklärung gab es nicht. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, ihn hier anzutreffen, enttäuscht war sie deswegen aber nicht. Das würde die Sache einfacher machen. Lautlos erhob sie sich und schlich in einiger Entfernung um die Ruine herum. Jetzt war sie auf der Rückseite des Gemäuers und näherte sich einer verfallenen und brüchigen Mauer. Grünes Moos bedeckte den uralten, schweren Stein, und Efeu und andere Schlingpflanzen rankten an dessen Überresten nach oben. Vorsichtig schob sie den noch vom Winter graubraunen Vorhang zur Seite und spähte in den Raum dahinter. Allem Anschein nach gehörte er zum Erdgeschoß. Der Boden war noch intakt. Die Stimmen und das Lachen kamen von weiter unten. Shachin kroch unter dem Efeu hindurch und machte einen Schritt ins Innere der Ruine. Vielleicht hatte sie ja Glück und ein Blick würde genügen. Ihr Atem ging regelmäßig und, trotz der körperlichen Anstrengung, flach und ruhig. Vorne sah sie ein Flackern, und ab und an warfen Gestalten große, verzerrte Schatten auf die gegenüberliegende Wand. Dort musste der Keller sein. Shachin bückte sich und kroch weiter. Langsam näherte sie sich dem Ende des Raums und jetzt erst bekam sie ein Gefühl für die tatsächliche Größe der Anlage. Im Lauf der Jahre war fast das gesamte Erdgeschoß eingebrochen und hatte den Blick auf die darunter liegenden Gewölbe freigegeben.
Holmanns Hall, oder das, was heute noch davon übrig war, war groß, sehr groß sogar. Allein das Untergeschoß musste fünfzig auf fünfzig Schritte messen, wenn nicht gar mehr. Vom beträchtlichen Teil der oberen, nicht unterkellerten Anlagen ganz zu schweigen. Shachin erkannte, dass sie sich in einem dieser nur oberirdisch angelegten Bereiche befand. Unter ihr war fester Boden aus hartem Gestein.
Schritt für Schritt schlich sie vorwärts und hielt direkt auf einen alten, halbverfallenen Bogen zu. Er hatte vermutlich einmal die Tür zu diesem Raum in den Angeln gehalten. Dahinter konnte sie den nur mehr hüfthohen, ungleichmäßigen Rest einer Mauer erkennen, der parallel zum Bogen verlief. Mucksmäuschenstill schlüpfte sie durch den Einlass und sah sich nach allen Seiten um. Sie befand sich jetzt auf einer Art Galerie mit Blick in Richtung Eingangsportal. Früher musste hier lediglich ein schmaler Flur gewesen sein, heute jedoch, ohne den Boden dahinter und die umgebenden Wände, wirkte er mehr wie ein Rundgang. Über Shachin spannte sich der sternenübersäte Nachthimmel, und unter ihr öffnete sich
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