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Torso

Torso

Titel: Torso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Sache, vor zwei Jahren gerade mal achtundvierzigjährig an Blutkrebs gestorben. Aber der war bekannt gewesen. Die anderen hatte das Leben irgendwohin verschlagen, und er hatte nichts von ihrem Schicksal gehört. War Zollanger einer von ihnen? Wann genau war der Mann in den Westen gekommen? Gab es noch eine Akte über ihn? Sedlazek machte sich keine großen Hoffnungen. Die Häftlinge, die in Müllrose eingesessen hatten, waren alle einer Sonderbehandlung unterzogen worden. Und die Akten darüber waren die ersten, die 1989 in den Reißwolf gingen. Man wollte sich ja absichern.
    Er lenkte seinen Wagen durch das verlassen daliegende Dorf und fuhr im Schritttempo die letzten Meter, bis das Gebäude in Sichtweite kam. Erichs Sonnenstudio war nicht gut gealtert. Sedlazek musterte die kahlen Backsteinwände, an denen ein Ausschlag abgeblätterter Farbreste hing. Das Gelände war zwar noch abgesperrt, aber ein Polizeibeamter war nirgendwo zu sehen. Sedlazek stieg aus, spazierte einmal um die ganze Anlage herum und glitt kurz entschlossen unter dem Absperrband hindurch. Die von der Polizei aufgebrochenen Türen waren wieder zugenagelt worden. Er brach ohne große Mühe drei Bretter heraus und kroch durch den Spalt in das Gebäude hinein. Ebenso rasch fand er die Kellertür und stand kurz darauf im Hauptgang des ehemaligen Gefängnisses.
    Ein unglaubliches Gefühl überkam ihn. Vor allem der Geruch setzte ihm zu und rief zahllose Erinnerungen in ihm wach. Mit klopfendem Herzen schritt er von Zelle zu Zelle, öffnete diejenigen, die noch Türen besaßen und musterte die kahlen Wände. Mehr und mehr ausgemergelte Gesichter von damals traten ihm allmählich vor Augen. Einige Minuten stand er ratlos in dem Raum, der Inga Zieten vier Tage als Gefängnis gedient hatte.
    Und dort war es auch, wo ihn die Gewissheit überfiel, dass dieser Zollanger vor vielen Jahren hier in Müllrose gesessen haben musste. Immer deutlicher verschmolz das Gesicht aus der Sauna mit der bleichen, hochmütigen Visage eines jungen Saboteurs, mit dem er sich in den späten sechziger oder frühen siebziger Jahren ein paar Monate lang herumgeschlagen hatte. Den Namen des Subjekts wusste er nicht mehr. Hier unten benutzte man keine Namen. Aber das Gesicht. Die Ähnlichkeit. Dreißig Jahre waren eine lange Zeit. Aber war das nicht die Erklärung, die sich aufdrängte? Der Mann hatte ihn ins
Allegra
verfolgt, ihm dort aufgelauert. Der Teufel allein wusste, ob er geplant hatte, ihm dort bei einem zweiten Besuch etwas anzutun, ob er einen Mordanschlag auf ihn ausgeführt hätte, wenn er nicht vorher aufgeflogen und von Ozols gestoppt worden wäre.
    Aber was sollte er nun mit dieser Gewissheit tun? Marquardt und Zieten informieren? Oder die Sache lieber für sich behalten? Wenn seine Vermutung zutraf – und je länger er hier unten stand, desto sicherer wurde er sich –, dann war Zollanger vor allem hinter ihm her gewesen, hatte wahrscheinlich vorgehabt, sich an ihm zu rächen. Aber warum hatte er Inga entführt? Und was bezweckte er mit den Torsi?
    Er verließ Ingas Zelle und setzte seinen Besuch fort. Kurz darauf stand er im Hauptraum. Was für ein kranker Geist hatte nur in diesem Menschen gewohnt, dachte Sedlazek. Sie hatten damals schon recht gehabt, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Ein weiteres Detail kam ihm in den Sinn und füllte das Bild in seiner Erinnerung weiter aus. Der Mann hatte eine Mönchskutte getragen. Oder einen Priestertalar. War dieser Saboteur damals nicht Theologe gewesen? Ein ganz prinzipientreuer Bursche, aus dem die Bibelsprüche nur so hervorquollen? Mit den engstehenden Augen eines Fanatikers. Jetzt sah er ihn klar vor sich. Und jetzt war er sich auch sicher, dass sie ihm eine ganz besonders unvergessliche Behandlung hatten angedeihen lassen. Diesen Burschen hatten sie wirklich gehasst. Diesen Christen! Ein Hetzer und Zersetzer, den man schon deshalb rasch abschieben musste, weil diese Sorte Glaubensfanatiker sogar für ein Gefängnis ein Risiko bedeutet hätte. Rübe ab wäre das Beste gewesen. Nach der Krankenakte von diesem Zollanger zu schließen, hätten sie ihm jedenfalls eine weitaus stärkere Dosis verpassen sollen. Erst nach fast dreißig Jahren zu krepieren, kam ja fast einer Begnadigung gleich.
    Sedlazek amtete schwer. Woher kam diese Erregung? Lag es an diesem vergessenen Ort, der Erinnerung an eine leider nie mehr wiederkehrende Zeit, als es noch um alles gegangen war, als die Fragen noch klar und die Antworten eindeutig

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