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Torso

Torso

Titel: Torso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gewesen waren? Unwillkürlich ballte er die Faust. Niemand würde jemals begreifen, wie nah sie hier unten der Wahrheit über die Menschheit gekommen waren. Zumindest ihm hatten sich hier alle Geheimnisse enthüllt. Die Welt mochte entschieden haben, diese Tür wieder zuzuwerfen und drei Mal zu verriegeln. Ihm war es gleich. Er hatte sich in dem großen Durcheinander dort oben eingerichtet und seinen Schnitt gemacht.
    Aber irgendwann würde es hier unten weitergehen. Das war gar keine Frage. Der neue Mensch entstand nicht aus Schwäche und Geschehenlassen, sondern aus einem Quantensprung in eine neue Moral. Aus einer neuen sozialistischen Zucht. Was er jetzt erleben musste, war nichts als eine dekadente Parenthese, eine lasche Zwischenzeit, bevor die Arbeit weitergehen würde.
    Dieser letzte Gedanke begleitete ihn, während er den Keller wieder verließ. Hatte er mit dem Saboteur nicht sogar genau diesen Gedanken erörtert? Die Notwendigkeit einer neuen Moral? Und hatten sich dort nicht ihre interessantesten Gespräche ergeben? Dass sie im Grunde das Gleiche wollten, nur von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus? Der Saboteur mit seiner idiotischen Überzeugung, dass die Menschen aus sich heraus gut werden könnten, ohne strengste Anleitung und Überwachung durch einen autoritären Staat. Lachhaft und gefährlich. Mochte der Einzelne das Risiko dieser Wette eingehen und sich eine blutige Nase holen. Für eine Gesellschaft war es – wie man allenthalben sehen konnte – selbstmörderisch.
    Er ging zu seinem Wagen und fuhr so lange Richtung Autobahn, bis sein Handy ein Netz anzeigte. Dann fuhr er rechts ran und begann zu telefonieren. Drei Telefongespräche später hatte er jemanden gefunden, der eine diskrete Suchanfrage zu möglichen Opferakten »Martin Zollanger« bei der Gauck-Behörde durchführen konnte. Vielleicht gab es ja noch Vorgänge aus anderen operativen Bereichen. In jedem Fall war es klug, jeden Stein umzudrehen. Und Marquardt und Zieten? Erst würde er alles sammeln. Dann würde man weitersehen.

[home]
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    M artin Zollanger hatte keine lebenden Verwandten. Seine geschiedene Frau konnte nach einschlägiger Rechtsprechung nicht für die Bestattungskosten belangt werden. Die Konten des getöteten Polizisten wiesen bereits Negativsalden aus, als das Ordnungsamt ein Pfändungsersuchen einreichte. Zollangers Beamtenrechte waren vier Tage nach seinem Tod durch eine Eilverfügung wegen gravierender dienstlicher Verfehlungen suspendiert worden. Entsprechend schlicht fiel die Beerdigung an einem verregneten Morgen des 17. Januar aus.
    Die Ausschreibung für Sozialbestattungen im Bezirk Tiergarten hatte im Vorjahr das Bestattungshaus Walter in der Turmstraße gewonnen. Dem Beerdigungsinstitut standen pauschal siebenhundertfünfzig Euro zur Verfügung, um die Kosten für den Sarg, die Ausstattung des Sarges, das Einbetten, den Überführungswagen, die Träger, die Desinfektion, eine Schutzhülle, die Aufbahrung, einen Redner, einen Organisten, Ausschmückung und Blumen zu bestreiten. Obwohl die 235,76 Euro für die Kapellennutzung entfielen, da Zollanger keiner Kirche angehörte, war das Budget nur unter Verzicht auf Redner und Organist einzuhalten. Als einziger Blumenschmuck blieben nach der Versenkung des Sarges in der Erde lediglich die Sträuße von Sina und Udo auf dem holzbekreuzten Rasengrab zurück, sowie ein von einem Boten gelieferter Kranz, den Sonia geschickt hatte. Erschienen war sie allerdings nicht. Ja, außer Sina und Udo war überhaupt niemand gekommen.
    »Gehen wir noch ein Stück?«, hatte Udo am Ende der kurzen Zeremonie gefragt.
    Die beiden spazierten schweigend bis zur Stromstraße, folgten ihr bis zum Spreebogen und gingen dann Richtung Hansa-Ufer. Sina war zutiefst deprimiert. Sie hatte das Gefühl, dass die Stadt sich heute in ihrer Schäbigkeit besonders verausgabte. Die Gehsteige waren von schwarzem Granulat übersät, das unter den Schuhen knirschte. Durch die winterlich bedingte Einschränkung der Kehrtätigkeit hatte die Hundekotdichte auf den Gehwegen ein kritisches Ausmaß erreicht. Es war ohnehin nicht empfehlenswert, den Blick zu heben, denn die Farbe des Himmels unterschied sich nur unwesentlich von der des Straßenmatsches, auf dem allein Abfall oder kleine, glitschige Inseln frisch gespuckten Auswurfs farbig glänzten. Man hörte Hupen und Husten und wie zum Hohn in der Ferne das Läuten von St. Johannis, wobei Sina vermutete, dass es wohl nur der Routineglockenschlag

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