Torso
Wahnsinnstaten seines rätselhaften Bruder betrafen. Er würde sich ein sehr gut gewähltes Versteck ausgesucht haben. Einen wirklich unauffindbaren Ort. Hatte er ihr einen Hinweis geschickt? Sie würde es auf einen Versuch ankommen lassen. Deshalb fuhr sie nach Süden. Nach Siena.
Da sie nicht sicher sein konnte, ob ihr jemand folgte, wich sie auf einsame Nebenstrecken aus und pausierte manchmal an Orten, wo sie einen Verfolger sicher entdeckt hätte. Das Wetter war katastrophal, die Straßen in einem schlimmen Zustand. Zweimal war sie fast angefahren worden. An eine Alpenüberquerung war im Winter ohnehin nicht zu denken, und so nahm sie am vierten Tag den Zug.
Sie erreichte Siena am Nachmittag des 18. Februar. Sie fand ein Hotel in der Nähe der Piazza del Campo, nahm ein Zimmer, ruhte sich ein paar Stunden aus, ging essen und dann früh zu Bett. Am nächsten Morgen war sie eine der ersten Besucherinnen im Museo Civico. Sie betrat den Innenhof des Palazzo Pubblico und stieg die zwei Treppen zum Museum hinauf. Sie legte ihre Eintrittskarte vor, durchquerte den ersten Saal, durchschritt eine niedrige Tür und stand im nächsten Augenblick im »Saal der Neun«. Sie bewegte sich langsam in die Mitte des Raumes und ließ ihren Blick dann von der westlichen über die nördliche zur östlichen Wand schweifen. Die Figuren waren im frühen Morgenlicht nur schemenhaft zu erkennen. Ein kleines Fenster zur Piazza del Campo hin war zwar geöffnet, ließ aber nicht genügend Licht herein, um das riesige Wandgemälde auch nur annährend auszuleuchten.
Elin schaute sich suchend um, entdeckte den Zeitschalter für die Beleuchtung neben dem Eingang und betätigte ihn. Sie erschrak fast, als sie sich wieder umdrehte. Sie hatte mittlerweile Reproduktionen dieser riesenhaften Wandmalerei gesehen und einiges darüber gelesen. Sie wusste, dass die Stadt Siena vor fast siebenhundert Jahren verzweifelt versucht hatte, sich von Korruption und Vetternwirtschaft zu befreien, wusste auch, welche Mittel man damals ersonnen hatte, um zu verhindern, was offenbar mit fataler historischer Regelmäßigkeit jedem Gemeinwesen drohte: dass die Machthaber zu Verbrechern wurden.
In Siena war man damals so weit gegangen, die neun Stadtoberen alle sechs Monate auszutauschen. Darüber hinaus wurden sie unter eine Art Quarantäne gesetzt und, um sie gegen Lobbyeinflüsse so weit wie möglich abzuschirmen, im Ostflügel des Gebäudes einquartiert. Wie groß die Verzweiflung über die Folgen korrupter und verbrecherischer Staatsführung gewesen sein musste, bezeugte die Wandmalerei sehr eindringlich.
Elin betrachtete die Darstellung der schlechten Regierung und das zuständige Personal, die Figuren des Bösen: die Grausamkeit, die einen Säugling schlachtete; die sich selbst entzweisägende Zwietracht; das den Verrat symbolisierende Lamm mit Skorpionschwanz auf dem Schoß eines vertrauensseligen Bürgers. Der über allem thronende schielende Tyrann mit Teufelshörnern und Wildschweinhauern hatte, nach dem, was Frau Kornmüller ihr erzählt hatte, Martin Zollangers Bruder als Vorlage für eine seiner Hassfiguren gedient.
Was für ein Einfall, diese Horrorfiguren real nachzubilden, dachte Elin spontan. Doch nach längerer Betrachtung erschien es ihr nicht mehr so abwegig, dass jemand den Wunsch verspüren konnte, auf obszöne Korruption in der Gegenwart mit einem Menetekel aus der Vergangenheit zu antworten. War diese naive, fast kindliche Bildsprache vielleicht sogar die einzige, in der sich eine Anklage gegen all das, was in der zynischen Gegenwart tagtäglich geschah, noch vorbringen ließ? Vielleicht wirkte dieses Gemälde nach fast siebenhundert Jahren in der Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft gerade deshalb so stark auf den Betrachter, weil sich die Werte, Prinzipien und Grundsätze, die es einklagte, nicht änderten und niemals ändern würden, auch wenn kaum noch jemand an sie glaubte.
Elin wandte sich dem Teil des Gemäldes zu, auf dem diese Grundsätze dargestellt waren. Ein blühendes Gemeinwesen war da zu sehen, in dessen Zentrum sich kein schielender Tyrann befand, sondern das als weise Herrscherfigur dargestellte Gemeinwohl. Es war umrahmt von den wichtigsten Voraussetzungen für seine Realisierung: Friede, Gerechtigkeit, Mäßigung, Großmut, Tapferkeit und Vorsicht.
Elin war mittlerweile nicht mehr die einzige Besucherin. Eine Schulklasse wurde gerade hereingeführt. Sie beobachtete einige Minuten lang die meist albernen
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