Torso
entlarven ist ja wohl ihr tägliches Brot. Ich bleibe dabei. Die Anklage hat sich auf stümperhafte Ermittlungen gestützt. Ich beantrage, dass die Anklage gegen Elin Hilger sofort fallengelassen wird.«
Das darauffolgende sekundenlange Schweigen wurde plötzlich durch ein heftiges Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Justizbeamter trat herein und winkte dem Vorsitzenden zu. Der Mann stand auf, ging zu dem Beamten hin und hörte sich an, was er ihm zu sagen hatte. Von draußen klang Stimmengewirr herein. Auf dem Gang vor dem Saal mussten sich mittlerweile sehr viele Menschen eingefunden haben. Der Vorsitzende kehrte an den Tisch zurück und sagte: »Herr Zollanger hat heute Morgen nicht nur uns überrascht. Wie ich gerade erfahren habe, hat er der Presse vor zwei Stunden umfangreiches Beweismaterial für seine Behauptungen zugestellt. Diesem Umstand verdanken wir offenbar diese schlagartige geballte Medienaufmerksamkeit.«
Er schaute in die Runde und fuhr dann fort. »Unter den gegenwärtigen Umständen können weder Frau Hilger noch Herr Kuljici als dringend tatverdächtig des Mordes an Aivars Ozols betrachtet werden. Die beiden sind daher mit sofortiger Wirkung aus der Untersuchungshaft zu entlassen, allerdings mit der Auflage, sich als Zeugen zur Verfügung zu halten. Die Staatsanwaltschaft«, fuhr er zu Frieser gewandt fort, »dürfte ab sofort alle Hände voll zu tun haben, Herrn Martin Zollanger dingfest zu machen und den ungeheuerlichen Komplex von Anschuldigungen zu überprüfen, die er in dieser Zeugenaussage gemacht hat. Ich darf Sie übrigens informieren, dass soeben der Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten ist. Dieses Verfahren wird wohl demnächst in einem umfassenderen Prozess aufgehen. Ich gehe davon aus, dass dann eine auf Wirtschaftsdelikte spezialisierte Strafkammer zuständig sein wird. Damit sind wir hier fürs Erste fertig. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit und wünsche Ihnen einen schönen Tag. Die Sitzung ist geschlossen.«
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D ie Meldungen überschlugen sich noch immer, als Elin einige Tage später Berlin verließ.
Die Gerüchte über den drohenden Konkurs der VKG hatten ein Beben ausgelöst. Fast stündlich wurden neue Horrorzahlen über mögliche Milliardenverluste des Konzerns bekannt. Die Dimension des Schadens war so ungeheuerlich, dass bereits Bundesbehörden Ermittlungen aufgenommen hatten. Zietens Büroräume waren durchsucht worden. Erics ehemalige Chefs hatten sich ins Ausland abgesetzt.
Am ersten Tag kam sie nur bis Trebbin. Sie hatte keine Zeit gehabt, die Reise zu planen, und so brach sie mit einem ihrer heiligsten Grundsätze und benutzte Geld, um ein Hotelzimmer zu bezahlen. Ihr Vater hatte ihr nach der Verhandlung ein Bündel dieser neuen Geldscheine aufgedrängt und sie angefleht, doch endlich zur Vernunft zu kommen, jetzt, da sie diese schreckliche Sache hinter sich hatte. Ob sie überhaupt an ihn dachte, eine Vorstellung davon habe, welche Sorgen er sich um sie machte? Was er denn nur tun könne, damit sie ihn wenigstens wie einen Mitmenschen behandelte?
Sie dachte während der Fahrt viel an ihn. Das stundenlange Fahrradfahren zeigte die übliche Wirkung. Sie wurde ruhig. Die Stimmen in ihrem Kopf verschwanden nicht, aber die Gespräche, die sie führten, wurden klar und durchsichtig. Seit sie mit vierzehn von zu Hause weggelaufen war, führte sie immer wieder diese Endlosgespräche in ihrem Kopf, erörterte Lebensentwürfe und Grundsatzfragen, mit denen sie haderte. Beim Fahrradfahren ordneten sie sich halbwegs. Sie beschloss, sich mit ihrem Vater auszusprechen, wenn sie dies hier hinter sich gebracht hätte. Ja, sie würde ab jetzt einiges anders machen.
Genaueres über die Gründe der Einstellung des Verfahrens gegen sie hatte man ihr nicht mitgeteilt. Das Video war beschlagnahmt worden. Sie hatte Zollangers Aussage nicht sehen dürfen. Aber Vera Kornmüller hatte ihr den unglaublichen Inhalt in groben Zügen geschildert. Kurz nach diesem Gespräch hatte sie den Umschlag wieder herausgesucht, den ihr vor einigen Wochen ein anonymer Absender ins Krankenhaus geschickt hatte. Die merkwürdige Eintrittskarte in das Museum lag noch immer darin. Sollte sie der Spur folgen? Zollanger musste damit rechnen, dass nach Veröffentlichung des Videos überall nach ihm gefahndet würde. Er hatte einen Menschen getötet. Und er hatte wer weiß wie viele Straftaten begangen, um Ermittlungen zu sabotieren, welche die
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