Torso
die ich Ihnen im Folgenden schildern werde.«
Zollanger schaute jetzt direkt in die Kamera. »Die Person, die am 11. Dezember von Aivars Ozols erschossen und später als Martin Zollanger identifiziert wurde, heißt Georg Zollanger. Georg Zollanger war mein Bruder. Er hielt sich seit März vergangenen Jahres nach mehr als dreißigjähriger Abwesenheit erstmals wieder in Deutschland auf.«
Zollanger machte eine Pause. Sein Gesichtsausdruck war ernst und zutiefst resigniert. Er hatte zweifellos Gewicht verloren und wirkte blass.
Der Vorsitzende nutzte die kurze Unterbrechung und stoppte die Wiedergabe des Videos. Dann fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und sagte: »Meine Damen und Herren. Die Sitzung ist unterbrochen. Herr Frieser, Frau Kornmüller, bitte folgen Sie mir ins Beratungszimmer.«
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Z wei Stunden bevor die Verhandlung gegen Elin Hilger vor dem Landgericht begann, war in den Nachrichtenredaktionen der wichtigsten Zeitungen und Sendeanstalten der Stadt folgendes Fax eingegangen:
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit teile ich Ihnen mit, dass sich im Kofferraum eines dunkelgrünen Pkw der Marke Ford, gegenwärtiger Standort: Parkhaus Berlin Ostbahnhof, Zufahrt Stralauer Platz, Stellplatz Nummer 84, umfangreiches Aktenmaterial zu den Hintergründen des unmittelbar bevorstehenden Konkurses der VKG -Volkskreditgesellschaft und ihrer Teilbanken befindet. Ich erteile Ihnen die Genehmigung, den Kofferraum des Wagens gewaltsam zu öffnen, die Akten zu entnehmen und journalistisch auszuwerten. Da die in den Akten enthaltenen Informationen teilweise illegal beschafft wurden und nicht gerichtsverwertbar sind, stelle ich Ihnen anheim, die von mir markierten Schlüsseldokumente unkommentiert zu veröffentlichen und das Material nach Auswertung und Sichtung an den Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses weiterzuleiten.
Hintergrund:
Die VKG ist ein auf verfassungswidrigem Wege entstandener Verbund von öffentlichen und privaten Banken und Finanzgesellschaften. Der Konzern steht kurz vor dem Zusammenbruch und wird einen finanziellen Schaden von bisher nie dagewesener Höhe nach sich ziehen, der aufgrund seiner öffentlich-privaten Natur von der Gesamtheit der Bevölkerung zu tragen sein wird.
Damit nicht genug. Ein bereits im vorletzten Herbst erstelltes, streng vertrauliches (sogenanntes Phoenix-) Gutachten von Bankvorstand Hans-Joachim Zieten, das sich ebenfalls in den Akten befindet, zeigt auf, wie die profitablen Teilbereiche des Konzerns im Konkursfall durch rasch vorgezogene illegale In-Sich-Geschäfte ausgelagert werden könnten, um die Interessen der beteiligten Privatbanken zu befriedigen.
Welche gigantischen Verluste dabei dem öffentlichen Haushalt entstehen würden, ist im Kapitel »Bereinigung von Betreiberaktivitäten und Abkopplung von der internen Konzernverrechnung« ausführlich dargestellt und wird zur besonderen Lektüre empfohlen.
In ihrer Gesamtheit dokumentieren die Akten den dringenden Tatverdacht von schwerem Amtsmissbrauch, Verfassungsbruch, rechtswidriger Vorteilnahme, Untreue und Bilanzfälschung.
Meine vollständige Zeugenaussage in dieser Angelegenheit wird heute um 10:30 Uhr dem Landgericht Berlin, Vierzehnte Strafkammer, Sitzungssaal 8 im Rahmen des Strafverfahrens gegen Frau Elin Hilger zugestellt.
Hochachtungsvoll
Martin Zollanger
Kriminalhauptkommissar a.D.
Von den Journalisten, die sich kurz nach Beginn der Verhandlung im Gerichtsgebäude Moabit einfanden, um noch in den Sitzungssaal acht zu gelangen, hatte angeblich keiner das in dem Fax genannte Material gefunden. Mehrere von ihnen bestätigten zwar, den Pkw im Parkhaus Ostbahnhof gefunden und den bereits aufgebrochenen Kofferraum nach Akten durchsucht zu haben. Doch wer immer der Schnellste gewesen war, hüllte sich der Konkurrenz gegenüber in Schweigen, solange die entsprechende Redaktion das heikle Material prüfte. Handygespräche wurden äußerst leise und diskret geführt, während man ungeduldig auf Einlass in den Verhandlungssaal wartete. Jeder verdächtigte jeden, das Material zu besitzen.
Als die Verhandlung wegen Zollangers Videoaussage unterbrochen wurde, existierten über die Akten und die darin dokumentierten ungeheuerlichen Anschuldigungen noch immer nur Gerüchte. Doch der sensationelle Umstand, dass ein vor zwei Monaten angeblich getöteter Hauptkommissar sich plötzlich als Zeuge in einem Mordprozess gemeldet hatte, der gerade eröffnet worden war, machte wie ein Lauffeuer
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