Torso
Etagen. Drei Tage nach meinen ersten harmlosen Anfragen wurde mein Büro durchsucht. Der »Besucher« muss von innen gekommen sein, denn er hat so gut wie keine Spuren hinterlassen. Sie waren ganz offensichtlich hinter meiner Quelle her. Ich habe den Kontakt sofort abgebrochen. Alle Spuren zu ihm hatte ich vorsichtshalber schon zuvor verwischt. Dann habe ich lange nachgedacht. Was hatte ich in der Hand? Illegal erworbene Unterlagen von einem anonymen Hacker. Und wer war die Gegenseite? Mein oberster Dienstherr.
Erinnerst du dich noch an unser Gespräch während eines Spaziergangs am Wannsee vor fünf oder sechs Jahren? An Allerheiligen? Ich hatte dich damals gefragt, wie es eigentlich war, in einem totalitären Staat Polizist zu sein. Deine Antwort lautete nur: Warum WAR ? Und dann haben wir lange gestritten, über Rechtsstaatlichkeit, über Moral und Politik, über parlamentarische Kontrolle. Ich musste in letzter Zeit oft an dieses Gespräch denken.
Du hast damals gesagt, du hättest einmal ernsthaft daran geglaubt, dass in einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft das Verbrechen irgendwann verschwunden sein würde. Mein Berufsethos lautete anders. Ich war immer davon überzeugt, dass jede Generation Homo sapiens unweigerlich einen Haufen Hurensöhne hervorbringt, und dass es die Aufgabe der Gesellschaft sein muss, dieses Wolfsrudel in Schach zu halten. Tja, mein Lieber. Wir haben uns beide geirrt. Anstatt der Verbrecher ist der Sozialismus verschwunden. Und das Wolfsrudel gewinnt jede Wahl.
Ich habe meinem Informanten dringend geraten, die Finger von der Sache zu lassen und nicht ein zweites Mal zu versuchen, Vorgänge aufzudecken, die man besser stillschweigend erträgt. Warum den Helden spielen? Für wen? Für die armen Schweine, die die obszöne Raffgier unserer »Elite« ausbaden müssen? Für das Volk, das diese Halunken auch noch wählt? Für die Generation Stöpsel in den Ohren, die gar nichts kapiert?
Er ist untergetaucht. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Aber ich mache mir Sorgen um ihn. Ich habe ihm deine private Mail-Adresse gegeben. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Falls er sich bei dir meldet, dann hilf ihm bitte.
Er wird sagen, er heiße Anton …
Zollanger blätterte um. Die E-Mail, die dort ausgedruckt war, stammte vom 24. September 2003. Es war nur ein Satz:
Anton bittet dringend um Rückruf unter folgender Nummer …
Er blätterte weiter, überflog die Zeitungsausschnitte, die Kopien der Ermittlungsakten, die er sich im November in einem Anflug von schlechtem Gewissen gemacht hatte. Dann schaute er wieder die E-Mail an, das letzte Lebenszeichen, die Handynummer, die er nie angerufen hatte.
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12
W as liest du denn da noch so spät?«, fragte Udo Brenner.
Sina sah von ihrem Schreibtisch auf. »Du bist noch hier?«, sagte sie überrascht. »Ich dachte, ich bin heute die Letzte.«
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war halb zehn. Wirklich keine Zeit, noch im Büro zu sitzen. An einem Freitagabend. Aber sie hatte sich festgelesen.
»Einen Bericht über Pendler und Streuner«, sagte sie. »Können wir wahrscheinlich nicht verwenden. Ich meine, wenn es überhaupt eine Serie wird.«
Udo Brenner stand noch immer im Türrahmen. Er hatte seinen Mantel an, Schal und Wollmütze in der rechten Hand.
»Aber du weißt ja, dass ich dieses akademische Zeug mag«, fuhr sie fort. »Kongresse und so.«
Er nickte. »Ja. Du hast schon merkwürdige Interessen. Und was sind bitte Pendler und Streuner?«
Sie streckte sich ein wenig. »Willst du das wirklich wissen? Dann komm wenigstens rein. Oder stehst du gern in Türrahmen herum? Thomas ist bestimmt schon im Sportstudio.«
»Also?«, fragte er, nachdem er Sina gegenüber an Krawcziks Schreibtisch Platz genommen hatte. »Was sagen uns die Gelehrten?«
»Sie stellen fest, dass es Leute gibt, die plötzlich anfangen, andere Menschen umzubringen. Erst einen, dann noch einen, dann immer mehr.«
»So. Das habe ich auch schon gemerkt.«
»Ein Professor aus England behauptet nun, dass sie sich in zwei Gruppen einordnen lassen. Der Pendler verlässt sein gewöhnliches Lebensumfeld, um seine Taten zu begehen. Er fährt irgendwo hin, um zu morden. Manchmal in einen anderen Landkreis oder eine andere Stadt.
»Geschäftsreise also.«
»Von mir aus. Der Streuner ist anders. Er schlägt mal hier, mal da zu, aber fast immer in relativ geringer Entfernung zu seinem Wohnort oder Lebensmittelpunkt.«
»Aha. Und inwiefern kann uns diese
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