Torso
nie das Adelsprädikat eines Täters bekommen, sondern nur die armselige Wartezimmeridentität eines Patienten. Selbst als Täter waren sie noch Opfer. Existenzlos. Eine Folge von Umständen.
Er schaute sich die Zwanzig-Uhr-Nachrichten an, blieb eine halbe Stunde vor der x-ten Dokumentation über das Attentat vom 11. September sitzen, aß eine Banane und schaltete den Fernseher aus, als eine Talkshow zum Thema »Pro und Contra Euroeinführung« begann. Wie viele Währungsunionen waren eigentlich in einem Leben zulässig, fragte er sich. Das Ende der Ostmark hatte seine Ersparnisse halbiert. Durch die Einführung des Euro war seine Kaufkraft nun noch einmal um mindestens ein Drittel gesunken. Aber immerhin hatte er mit Ersparnissen schon lange keine Probleme mehr.
Er stand auf, ging den Flur hinab, öffnete die Tür zum linken Schlafzimmer und legte den braunen Umschlag auf einem Ikea-Regal ab. Dabei ließ ihn die Ironie der Situation schmunzeln. Was hätte die Psychologin wohl erst in ihren Bericht geschrieben, wenn sie gewusst hätte, was alles auf diesen Regalen lag? Er ließ seinen Blick über die gut gefüllten Aktenordner schweifen. Dort, wo keine Ordner standen, stapelten sich Fotokopien und Zeitungsausschnitte. An der Wand, wo sich das Fenster befand, stand ein kleiner Schreibtisch. Daneben ein Gästebett und ein weißer, schmaler Kleiderschrank von einer noch billigeren Sorte als das Ikea-Regal. Zollanger ging auf den Schrank zu und öffnete ihn. Er war so gut wie leer. Nur ein einziges Kleidungsstück hing darin. Er holte es heraus, musterte den schwarzen Stoff, hielt sich den Umhang, der wie eine Richterrobe aussah, vor den Körper und betrachtete sich kurz im Spiegel, bevor er ihn wieder in den Schrank zurückhängte.
Er ging zum Schreibtisch. Papiere lagen kreuz und quer übereinander, bedeckt von einer feinen Staubschicht. Der Abreißkalender seiner Autowerkstatt war fast in den Spalt zwischen Tisch und Wand gerutscht und zeigte den 24. November an. Zollanger musterte den Tisch lange. Die Notiz von Tanja Wilkes kam ihm in den Sinn. Der Besuch des Mädchens. Er ging wieder zum Aktenregal und schaute in die zweitoberste Reihe. »Hilger« stand auf nicht weniger als vier Aktenordnern. Die Ordner darüber hießen anders. »Zieten« oder » BIG «. Der erste Ordner in der obersten Reihe war gelb und schmal. Beschriftet war er mit »Anton Billroth«. Zollanger legte den Finger in das mit einem Metallring verstärkte Loch, zog den Ordner heraus und öffnete ihn.
Auf der Innenseite des Aktendeckels klebte ein Foto.
Anton Billroth
stand darunter.
14. 3. 1943–7. 12. 2002.
Zollanger betrachtete es eine Weile. Dann wanderte sein Blick zu dem handschriftlich verfassten Brief, der zuoberst abgeheftet war.
4. Dezember 2002
Lieber Martin. Dein Besuch heute hat mir gutgetan. Aber machen wir uns nichts vor. Sehr viele Besuche werde ich nicht mehr empfangen können. Du willst davon nichts hören, aber ich weiß sehr gut, wie es um mich steht. Sie werden übermorgen versuchen, die alten Leitungen um die Pumpe herum freizustemmen, und wenn das nicht klappt, dann ist es zu Ende. Ich habe eine realistische Einschätzung meiner Chancen, und wenn du diesen Brief bekommst, so bedeutet das, dass ich richtig gelegen habe mit meiner Ahnung.
Ich bin übrigens nicht zu bedauern. Es gibt weitaus schlimmere Todesarten als die, aus einer Narkose nicht mehr zu erwachen. Und wenn ich an die Vorgänge denke, von denen ich in den letzten Monaten manchmal ansatzweise gesprochen habe, solltest du mich ohnehin eher beglückwünschen. Ich habe immer nur Andeutungen gemacht. Und als du genauer nachgefragt hast, habe ich natürlich geschwiegen. Beruf verpflichtet, nicht wahr? Aber der Grund war ein ganz anderer. Ich hatte Angst, Martin.
Vor etwa sechs Monaten bekam ich Unterlagen zugespielt. Ich wusste nicht, wer der Informant war. Aber eines sah ich recht schnell: Wenn die Dokumente echt waren, lief der Informant durchaus Gefahr, demnächst bei euch ein Aktenzeichen zu bekommen.
Die Geldströme, die in den gehackten Dateien dokumentiert sind, widersprechen jeglicher wirtschaftlichen Logik. Dennoch fanden und finden sie statt. Ich habe natürlich versucht, sie zu verstehen. Irgendwann habe ich äußerst vorsichtig damit begonnen, ein paar der Personen zu durchleuchten, die mit der Sache zu tun haben. Das war äußerst heikel, denn es sind klingende Namen, hochstehende Persönlichkeiten, einflussreiche Leute aus den obersten
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