Torso
dem blutüberströmten Vierzehnjährigen auf dem regennassen Gehsteig. Mit der schreienden Mutter, die die ausgeschlagenen Zähne ihres Kindes vom Boden aufsammelte, während Sanitäter versuchten, das vor Schmerzen zuckende Opfer zu versorgen. In geringer Entfernung die grinsenden Visagen der beiden festgenommenen Siebzehnjährigen, Intensivtäter mit einem Vorstrafenkonto von weit über dreißig Straftaten, die sich »den kleinen Wichser« vorgeknöpft hatten, weil der seine Turnschuhe behalten wollte.
Für ehemalige Volkspolizisten steht die Durchsetzung staatlicher Interessen vor dem Interessenschutz von Individuen.
Über dreißig Fälle von Raub, Diebstahl, Nötigung und Körperverletzung reichten also nicht aus, ein staatliches Interesse zu begründen, das es gestattete, das individuelle Interesse pathologischer Schläger und Menschenquäler zu beschneiden und sie aus dem Verkehr zu ziehen. Und darunter litten ostdeutsche Polizisten angeblich mehr als westdeutsche? Das war schon interessant. Aber warum sprach die Psychologin überhaupt von Polizisten? Hatte die Polizei denn kapituliert? Über dreißig Mal hatte sie eingegriffen, gehandelt, ermittelt, die Schuldigen gefasst und der Justiz übergeben. Wenn jemand kapituliert hatte, dann die Justiz.
Dabei war er nicht einmal im Dienst gewesen. Er saß zufällig mit im Wagen, als der Notruf kam. Und er hatte sich auch gar nicht einmischen wollen. Die Sache war längst erledigt, als sie eintrafen. Die beiden Schläger saßen im Streifenwagen und grinsten. Das war alles. Der übel zugerichtete Junge wurde abtransportiert. Der Computer spuckte das Vorstrafenregister der beiden Schläger aus. Die Mutter schrie immer noch. Einer der Schläger rief ihr zu, sie solle aufpassen, denn wenn sie so weiterschreien würde, könnte es sein, dass sie auch bald aus der Schnabeltasse frühstücken würde.
Und da hatte er zugeschlagen.
Die autoritären Grundmuster der früheren DDR -Polizei werden vermutlich eher unter- als überschätzt. Nicht nur die wiedervereinigungsbedingte Verlierermentalität kann zu enormer Frustration und Aggression führen. Auch fällt es vielen ehemaligen Volkspolizisten schwer, sich daran zu gewöhnen, dass eine Gesellschaft mit Kriminalität leben muss und kann.
Er erinnerte sich, dass seine Handknöchel schmerzten, dass er seine Arme nicht bewegen konnte, dass sie mit Blaulicht durch die Stadt gerast waren und dass der Schläger ihn mit grenzenlosem Erstaunen anstarrte, während Zollangers Handabdruck sich allmählich rot auf seiner Backe abzeichnete. Jemand schrie Zollanger immer wieder an, aber er verstand nichts. Dann hielt der Bus in einem Hof, er wurde aufgefordert auszusteigen und in ein Gebäude abgeführt. Der Polizeiwagen fuhr weiter.
Wer seinen Beruf durch die Anzahl der Jahre definiert, die er Leute wegsperren kann, wird in der modernen Polizeiarbeit wenig Erfolgserlebnisse haben. Viele ehemalige Volkspolizisten haben Schwierigkeiten im Umgang mit Komplexität und Mehrdeutigkeit.
Zollanger warf die Dokumente vor sich auf den Couchtisch und erhob sich. Udo hatte recht gehabt. Er hätte das Gutachten gar nicht erst lesen sollen. Es war vernichtend ausgefallen. Aber was ihn kränkte, war gar nicht das harsche Urteil über ihn.
Das Unerträgliche daran war etwas ganz anderes. Er kam in diesen Zeilen gar nicht vor. Ja, das Gutachten attestierte ihm nicht einmal, ein Täter zu sein. Mein Gott. Er hatte zugeschlagen. Er. Ein Polizist! Reichte das nicht? War nicht wenigstens dies ein Beweis, dass er existierte? Dass er einen freien Willen besaß, entschieden hatte, das persönlich Richtige, aber gesellschaftlich Falsche zu tun – Selbstjustiz üben zu wollen bei vollem Risiko bezüglich der Konsequenzen?
Aber nein. Er war nicht einmal ein Täter. Ebenso wenig wie die beiden Schläger Täter sein durften. Er war nur ein frustrierter Ossi. Und die beiden Schläger konnten vermutlich hundertmal vor Gericht erscheinen – man würde ihnen trotzdem niemals zugestehen, autonom und eigenverantwortlich böse gehandelt zu haben. Ja, vielleicht war das sogar einer der Gründe für ihre unendliche Kette von Brutalität und Gemeinheit: Das politisch korrekte Rechtssystem dieser Gesellschaft hatte sie so weit erniedrigt, dass es sogar verschmähte, sie zu bestrafen. Sie waren realitätslose Subjekte, Unterworfene im letzten Wortsinn, absolute Opfer. Sie konnten quälen und demnächst wahrscheinlich auch noch morden, so viel sie wollten: Sie würden
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