Torso
soll ich damit?« fragte sie.
Statt einer Antwort angelte Mirat noch einen Gegenstand aus dem Versteck hervor.
»Hier. Das brauchst du auch.«
Sie erkannte es erst, als er mit der Taschenlampe darauf leuchtete: eine Steinschleuder.
»In dem Sack ist die Munition«, sagte er. »Zündkerzenschrot. Durchschlägt alles. Du kannst dort oben nicht ohne Waffe herumlaufen. Hier. Nimm.«
Sie öffnete das Säckchen und ließ ein wenig von dem scharfkantigen Granulat aus zerstampften Zündkerzen in ihre Handfläche rollen. Dann schüttete sie es zurück, verschnürte das Säckchen und legte es samt Schleuder in die Mauernische.
»Danke«, sagte sie. »Aber ich lasse das lieber hier. Falls ich es mal brauchen sollte, weiß ich ja, wo ich es finde.«
Mirat zuckte mit den Schultern und ging weiter.
»Wer war der Typ, den du nach dem Berber gefragt hast?«, fragte Elin, als sie die Stufen hinabgingen.
»Nelson.«
»Und? Wer ist Nelson?«
»Keine Ahnung. War mal Anwalt oder so was.«
»Also auch ein Berber?«
»Hm. Er hilft mir mit den Ämtern.«
Elin prägte sich den Namen ein. Es war beruhigend zu wissen, dass es unter den Obdachlosen Fachleute gab. Immer wieder erstaunlich, wie viele Falltüren ins Nichts der Wohlfahrtsstaat Deutschland bereithielt. Sogar für die, die eigentlich alles richtig gemacht hatten. Einen Anwalt und einen Computermann hatten sie hier also. Vielleicht fand sie auch noch einen ehemaligen Polizisten, der ihr einen Tipp geben konnte, wie man diesen Zollanger unter Druck setzen könnte. Der Mann wusste irgendetwas über Erics Fall. Das hatte sie genau gespürt. Und sie würde es herausfinden.
»Wie viele Leute wohnen hier unten?«, erkundigte sie sich.
»Das weiß keiner. Manche kommen, andere gehen. Es gibt dreißig oder vierzig Nischen. Manchmal sind alle voll. Manchmal nur ein paar.«
»Und du und deine Geschwister? Wo seid ihr?«
»Tut mir leid. Das sage ich nicht. Aber wenn du mich mal brauchst und nicht weißt, wo ich bin, dann mach einfach das hier.«
Er hob den Arm und schlug mit der Taschenlampe gegen eins der Heizungsrohre.
»Love is in the air«, sagte er grinsend.
»Was?«
»Der Rhythmus. Tata ta tata. Das ist meiner.«
»Ah. Ist es noch weit? Wie heißt der Computerberber überhaupt?«
»Hagen.«
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22
H ans-Joachim Zieten blickte in die Runde. Was er sah, befriedigte ihn. Er konnte buchstäblich hören, was seinen Zuhörern durch die Köpfe ging, oder besser: was nicht. Das Beste an diesen Sitzungen war, dass das Wichtigste nie Eingang ins Protokoll fand. Etwa, wer von den Anwesenden bereits fünf Minuten nach Sitzungsbeginn eingenickt war oder wer an äußerst kritischen Stellen den Sitzungssaal verlassen hatte, um ein dringendes Telefonat auf seinem Handy entgegenzunehmen. Handys waren bei diesen Sitzungen eigentlich verboten, aber Zieten sah das nicht so eng. Je mehr Ablenkung, desto besser.
Die beiden Gewerkschaftsvertreter verstanden absolut gar nichts von der Materie, ebenso wenig wie der Gesamtbetriebsratsvertreter. Da war es sowieso gleichgültig, dass sie dauernd telefonieren gingen. Bei den Regierungsvertretern sah es nicht viel besser aus. Der Mann aus dem Wirtschaftssenat war von Haus aus Theologe. Dem konnte man nichts erklären, aber dafür fast alles erzählen. Der andere war zwar Chemieingenieur, aber bei der Finanzalchemie, die Zieten sich ausgedacht hatte, half das nicht viel, weshalb der Mann auch die ganze Zeit Zeitung las. Die Wirtschaftsexperten verstanden immerhin, wie schlecht die Lage wirklich war. Ob Zietens »Lösung« allerdings funktionieren würde, musste ihnen schleierhaft bleiben. Sie waren so etwas wie informierte Patienten, die sehr gut über ihre Krankheit Bescheid wussten, aber keine Ahnung hatten, wie man sie heilen sollte. Entsprechend sagten sie kein Wort und stellten auch keinerlei Rückfragen. Die Einzigen, denen Zietens Konstruktion auf Anhieb zugänglich war, waren die Vertreter von zwei Großbanken, die über erhebliche Beteiligungen mit im Boot saßen. Ihre Mienen hatten sich zu Beginn rasch verfinstert, denn dass die tatsächlichen Verluste bereits die Milliardengrenze erreicht hatten, hatte Zietens System ihnen bisher erfolgreich verschleiert. Nun lag die Tatsache offen da, und natürlich ahnten die beiden, dass dies nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs war. Zieten wusste, dass er vor allem diese beiden im Auge behalten musste. Ihnen musste er klarmachen, dass ein Totalverlust ihrer Investitionen nur
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