Torso
es auch nicht mit Paragraphendehnung und halblegalen Konstruktionen abgegangen. Die Situation war zu verfahren für die üblichen Tricks. Diesmal würde man um ein echtes Täuschungsmanöver nicht herumkommen. Aber was er ausgearbeitet hatte, konnte sich sehen lassen. Das elfseitige Papier lag vor ihm auf seinem Schreibtisch, neben den lästigen Artikeln über Merkwürdigkeiten bei der Heizkostenabrechnung in Leipziger und Dresdener Plattenbauten. Er griff nach dem Dokument und überflog den Titel:
Vorlage für die Sitzung des Konzernvorstandes zum Thema »Phoenix-Projekt«.
Es war eine elegante Lösung, für Außenstehende kaum zu verstehen, für Insider eine Routinesache. Den Entwurf dafür hatte er bereits vor über einem Jahr konzipiert, als absehbar wurde, dass die Sache sich nicht mehr wie geplant entwickelte. Damals hatte er empfohlen, den Dampf jetzt rauszunehmen und allmählich an einen Ausstieg zu denken, aber niemand hatte auf ihn gehört. Die hitzige Diskussion klang ihm noch in den Ohren. Politiker, dachte er verächtlich. Sie waren genauso hoffnungslose Konsumjunkies wie die Leute draußen auf der Straße. Anstatt sich mit überteuerten Krediten Autos und Flachbildschirme zu kaufen, die sie sich gar nicht leisten konnten, nahmen sie eben Milliardenschulden für unerfüllbare Wahlversprechen auf. Mit dem unschlagbaren Vorteil allerdings, dass sie das Risiko für diese aberwitzigen Kredite den Idioten aufhalsen konnten, die sie wegen dieser absurden Versprechen auch noch gewählt hatten. Aber was sollte er denn tun? Er war Geschäftsmann. Banker.
Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?
Es war das einzige Gedicht aus seiner Schulzeit, an das er sich erinnerte, weil es so ganz und gar seiner Weltanschauung entsprach.
Was verlangt ihr vom Schakal, dass er sich häute? Vom Wolf? Soll er sich selber ziehen die Zähne?
Das war wirklich gut gesagt von diesem Schöngeist. Wie hieß der Mann noch? Ach, er kam ja kaum noch zum Lesen.
In wenigen Minuten stand ihm die Auseinandersetzung vom letzten Jahr wieder bevor. Diesmal gab es wirklich keine Alternative mehr. Er musste diesen Leuten klarmachen, dass es nun wirklich gefährlich wurde und ihnen die ganze Sache bald um die Ohren fliegen könnte, wenn sie nichts unternähmen.
Er ging im Kopf der Reihe nach die Personen durch, die er gleich vor sich haben würde. Dabei fiel ihm auf, dass ein rotes Lämpchen am Telefon auf seinem Schreibtisch zu leuchten begonnen hatte. Aha. Seine Besucher waren schon eingetroffen. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel, entblößte kurz die Zähne und ließ sein Gesicht zu einem Siegerlächeln erstarren.
Politiker, dachte er voller Verachtung, verstanden von Bankgeschäften etwa so viel wie seine Frau von Frauen.
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21
E lin bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde. Sie war erschöpft von der langen Fahrt ins Märkische Viertel. Die Sozialstation, zu der sie unterwegs war, lag nur noch fünf Fahrradminuten entfernt. Seit ihrer Ankunft in Berlin kam sie dreimal die Woche hierher, denn außer Jojo und Daniel, den beiden Sozialarbeitern aus der »Kiezoase«, kannte sie niemanden in der Stadt. Diese Welt war ihr vertraut. Straßenkinder. Obdachlose. Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen. Sie arbeitete meistens in der Suppenküche, half aber auch manchmal dem Arzt, der montags und donnerstags vorbeikam, um Obdachlose gegen die Schleppe zu behandeln.
Das Bild ähnelte dem, das sie aus Hamburg kannte. Armut und Elend sahen überall gleich aus. Nur tauchten immer mehr Familien mit Kindern in der Schlange vor der Essensausgabe auf. Und nicht nur Migrantenfamilien. Eine dieser Familien kannte Elin gut. Das heißt, sie kannte die sechs Kinder, die es seit geraumer Zeit vorzogen, in den weitverzweigten Heizungskellern des Märkischen Viertels zu wohnen und sich in der Sozialstation mit dem Nötigsten zu versorgen, anstatt sich »zu Hause« aufzuhalten. Mirat, der große Bruder der fünf anderen, hatte keine andere Möglichkeit gesehen, seine Geschwister vor seinem gewalttätigen Vater in Sicherheit zu bringen. Die Alternative wäre gewesen, den Vater im Schlaf totzuschlagen. Aber Mirat war intelligent genug zu wissen, dass er den Behörden keinen Grund liefern durfte, ihn nach Bosnien zurückzuschicken. So hatte Jojo Elin die Situation jedenfalls geschildert. Es war ja auch gleichgültig. Die Verhältnisse, aus denen die Leute kamen, die hier angespült wurden, waren sowieso nicht zu ändern. Sie waren aus dem System
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