Torso
Daneben befand sich ein Durchgang zu einem weiteren Raum, der stockdunkel war. Gab es hier nirgendwo ein Fenster? Sollte sie nicht doch besser zurückkehren?
Der Trotz stieg wieder in ihr hoch. Sie ließ sich doch nicht foppen. Das konnte nur ein Witz sein. So etwas passierte nur in Filmen. Aber wer immer sich das ausgedacht hatte, würde es bereuen. Denn trotz allem hatte sie doch Angst. Der Ort war ihr unheimlich. Und diese Kühltruhe dort? Natürlich stand sie genau deshalb hier, um zu testen, ob sie sie aufmachen würde, oder nicht? Und was sollte sie denn sonst tun? Sie ignorieren? Sie hatte dieses Spiel satt. Mit zwei beherzten Schritten ging sie darauf zu und riss den Deckel auf.
Ihr erster Impuls war, loszulachen. Es war einfach zu viel, dachte sie. Und jetzt war sie sich sicher. Es war ein verdammter, geschmackloser Test. Vor ihr lag etwas, das aussah wie ein Bein. Es war so zusammengeschnürt, dass Ober- und Unterschenkel aneinander lagen. Wie in einem Film, dachte sie noch. Dann hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie fuhr herum. Der Deckel der Truhe knallte herunter. Der Mönch schaute sie an.
»Genau dreiundzwanzig Minuten«, sagte er. »So lange gelten Ihre Versprechen.«
Inga war von sich selbst überrascht. Sie sprang auf den Mann zu und riss ihn zu Boden. Sie hörte, wie sein Hinterkopf hart auf den Steinboden aufschlug. Doch im nächsten Augenblick war er über ihr und verpasste ihr zwei schallende Ohrfeigen. Sie schrie auf, traf ihn mit ihrer rechten Faust am Hals, da hatte er schon ihre Handgelenke gepackt und schleifte sie in ihre Zelle zurück. Ohne ein weiteres Wort ließ er dort von ihr ab, verließ die Zelle und schlug krachend die Tür zu. Diesmal hätte sie hören können, wie ein Schlüssel zweimal umgedreht wurde. Aber Inga hörte nichts. Nur ihr panisches Schluchzen.
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28
I rgendwann stellte Hans-Joachim Zieten fest, dass er überhaupt nicht wusste, wohin er fuhr. Seine Frau hatte schon zweimal auf seinem Handy angerufen, aber er hatte nicht geantwortet. Er wusste, dass sie schreckliche Angst hatte. Er kannte seine Frau und wollte gar nicht wissen, welche Horrorszenarien sich in ihrer Phantasie gerade abspielten.
Vor allem hatte er keine klare Vorstellung davon, was er jetzt tun sollte. Diskretion war jetzt erst einmal das Wichtigste. Überreaktionen waren nie gut. Natürlich musste er zur Polizei gehen. Mit diesem Vorsatz hatte er seinen Wagen gestartet. Aber dann hatte er gezögert. Sollte er nicht lieber noch ein paar Stunden abwarten? Vielleicht tauchte Inga wieder auf, und es gab eine ganz einfache Erklärung für die Situation? Würde man ihn überhaupt ernst nehmen? Aber sosehr er sich auch bemühte, Ruhe zu bewahren, die beiden merkwürdigen Nachrichten auf dem Beifahrersitz ließen ihn frösteln. Vor allem die zweite Botschaft lähmte ihn.
Mein Leben ist der Tod.
Und dazu das Sinnbild des Phoenix. Ausgerechnet heute. Konnte das Zufall sein? Vor knapp zwei Stunden hatte er in einer heiklen und vertraulichen Unterredung seine Strategie erläutert. Und jetzt das.
Zieten schluckte. Er hatte gar keine Wahl. Er musste sofort etwas unternehmen. Aber was? Die Phoenix-Vorlage war streng geheim, denn sie war illegal. Niemand durfte davon erfahren. Von den lateinischen Botschaften wusste außer ihm bisher niemand. Er konnte sie verschwinden lassen. Aber wie sollte er dann seine Sorge begründen, dass seiner Tochter etwas zugestoßen sein könnte? Sie war nicht in ihrer Wohnung, und ihr Auto stand unverschlossen in der Garage. Außerdem hatte sie ihr Handy nicht dabei. Die Polizei würde ihn auslachen. Die Botschaften also doch vorlegen, ohne sich dazu zu äußern? Nur eine oder alle beide? Undenkbar.
Je länger er darüber nachdachte, desto wütender und verzweifelter wurde er. Nur sehr wenige Leute wussten von dem Papier. War vorstellbar, dass einer von ihnen ihn unter Druck setzen wollte? Mit derartigen Mitteln? Zieten schob den Gedanken sofort wieder beiseite. Aber der Verdacht kehrte immer wieder zurück, hartnäckig wie eine Schmeißfliege. Wollte man ihn erpressen? Mit Mafiamethoden? Hatte jemand, der seine Vorschläge nicht mochte, sich das ausgedacht? Nein, Ullas Hysterie hatte ihn angesteckt. So etwas gab es doch hier nicht. Und warum denn er? Warum seine Tochter? Was hatte er denn letztlich mit der Sache zu tun? Er führte ja nur aus, was irgendwo weit über seinem Kopf beschlossen worden war. Zugegeben, er stellte die Instrumente zur Verfügung. Aber die
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