Torso
offenbar eine Fantasy-Internetseite aufgerufen. Jedenfalls war dort ein animiertes Ungeheuer zu sehen. Das Biest sah aus wie ein Minotaurus. Es stand auf der Stelle, schabte angriffslustig mit dem Vorderhuf im Staub und senkte den Kopf zum Angriff. Hagen drückte eine Tastenkombination. Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Arm mit einem Schwert und stach dem Minotaurus direkt zwischen die Augen. Der Bildschirm wurde schwarz.
Hagen griff nach einer der Platten, verband sie über ein Kabel mit dem Rechner und begann, Codeanfragen auszufüllen. Eine Weile lang beobachtete Elin die Vorgänge fasziniert, dann gab sie auf. Sie hatte keine Ahnung, was Hagen da trieb. Das einzige Detail, das sie im Auge behielt, war eine kleine Figur am rechten unteren Rand des Bildschirms. Sie kniete dort sprungbereit. Die Animation sah aus wie ein kleiner römischer oder griechischer Soldat, der mit gezücktem Schwert in Lauerstellung auf irgendetwas zu warten schien. Ansonsten huschten nur unlesbare Codezeichen über den Bildschirm. Nach einer Weile schloss Hagen die zweite Festplatte an. War das Laufwerk schon geknackt? Oder war der Versuch misslungen? Elin schaute wieder auf den kleinen Krieger am unteren Bildrand. Plötzlich sprang der auf und drehte sich um. Aber zu spät. Der Minotaurus war wieder da. Ohne Vorwarnung stürzte er auf den kleinen Krieger zu und durchbohrte ihn mit einem seiner beiden Hörner. Hagen reagierte sofort, zog das Kabel aus dem PC , schloss die Maske und loggte sich aus.
»Komm. Wir gehen«, sagte er und war schon halb draußen.
Sie brauchten den ganzen Nachmittag, um die vier Platten aufzuschließen. War Hagen verrückt? Oder war seine Vorsicht begründet? Er rührte keinen PC an, der nicht von irgendwelchen Hackern über Graffiticodes an Hauswänden als sauber empfohlen wurde. Sauber, das hieß: Es war ein Störprogramm darauf installiert, das verhinderte, dass die Rechnertätigkeit beobachtet oder gespeichert werden konnte. Solange Theseus den Minotaurus außer Gefecht gesetzt hielt, konnte man gefahrlos arbeiten, unbeobachtet in Fremdnetze eindringen, Serverparks anzapfen und schwer nachvollziehbare Pfade im Netz legen, auf denen man nicht Gefahr lief, von den mächtigen Spähprogrammen der Regierungen und Geheimdienste erwischt zu werden.
»Gehe niemals von einem normalen Computer aus ins Internet«, schärfte Hagen ihr ein. »Alles, was du dort tust, wird aufgezeichnet. Alles. Wenn Theseus den Minotaurus schlachtet, hast du zehn bis fünfzehn Minuten Ruhe, bis sie dich wieder auf dem Radar haben. Dann musst du verschwinden.«
Sie hatte ihm ungläubig zugehört, dann aber dankbar die geknackten Platten entgegengenommen.
»Und wie finde ich einen sauberen Computer?«, hatte sie noch gefragt.
»Frag mich. Du weißt ja, wo ich wohne.«
Jedenfalls hatte Hagen die Dateien entsperrt. Als Elin wenig später das erste Laufwerk anschloss, surrte es leise, und im nächsten Augenblick erschien es auf dem Bildschirm. Sie klickte zweimal darauf. Vier Ordner erschienen. Die Abkürzungen sagten ihr nichts. Und als sie das erste Dokument öffnete, verstand sie auch nicht mehr. Es waren Listen. Listen von Zahlen. Sie scrollte sich durch die Spalten, ließ jedoch bald resigniert davon ab. Sie war nicht viel weiter. Sie konnte sich zwar für jedes Stück aus Erics Hinterlassenschaft mühselig einen Spezialisten suchen, der ihr Zugang zu diesen Unterlagen verschaffte. Aber was konnte sie letztlich damit anfangen? Mit Kontendaten einer Firma, die es nicht mehr gab. Warum hatte Eric das alles bei ihr deponiert? Sie schloss die Dateien und stöpselte die nächste Festplatte ein. Wieder das gleiche Bild. Dutzende von Ordnern mit Zahlenreihen. Aber auch eine Word-Datei. Sie hieß »Phoenix.doc«. Elin klickte sie an – das Dokument war offenbar noch in Arbeit. »Vorstandsvorlage«, stand auf dem Deckblatt. Und darunter etwas, das endlich einmal interessant klang: »Streng vertraulich«.
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26
U lla hatte recht gehabt. Die Situation war merkwürdig. Er ging langsam durch die Wohnung und versuchte, aus den herumliegenden Gegenständen herauszulesen, wo seine Tochter sein könnte. Das Bett war gemacht. Auf dem Sessel neben dem Fenster lagen eine Jeans, ein T-Shirt, ein hellbrauner Kaschmirpulli und Unterwäsche. Sie war beim Tennis gewesen. Und sie war zurückgekommen, sonst wäre ihr Auto nicht in der Garage.
Ulla saß am Küchentisch und schaute ihn gereizt an, als er von seinem Rundgang zurückkam.
»Wir
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