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Torso

Torso

Titel: Torso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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normaler Yuppie. Wir hatten über fast alles unterschiedliche Ansichten. Reicht das jetzt?«
    Eine kurze Pause entstand. Zollanger schaute in den Hof hinab. Dann sagte er: »Ihr Bruder hat bei der BIG glänzend verdient. Wissen Sie, warum er im Frühjahr plötzlich gekündigt hat?«
    Elin schüttelte den Kopf.
    »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
    »Anfang September. Drei Wochen vor seinem Tod.«
    »Und er hat Ihnen nie erzählt, warum er diesen tollen Job plötzlich hingeschmissen hat? Was wollte er denn machen?«
    »Irgendeine Internetgeschichte. Ich weiß es nicht. Es interessierte mich auch nicht. Eric war Eric. Er hatte immer Geld, und er kam immer klar. Ich sage doch, wir haben nie über solche Dinge geredet.«
    »Aber er hat Ihnen Dokumente gegeben. Disketten. Laufwerke …«
    »Die habe ich erst nach seinem Tod gefunden.«
    »Wo?«
    »In meinem Zimmer in Hamburg. Er hat eine Tasche dagelassen. Angeblich hatte er sie vergessen. Er rief mich aus Berlin an und sagte, die Sachen seien nicht so wichtig, er würde sie nächstes Mal abholen. Aber wollten Sie nicht über Erics Firma sprechen?«
    Zollanger blickte erneut in den Hof hinab.
    »Ihr Bruder ist mir ein Rätsel, Elin. Er hat für Ganoven gearbeitet. Das kann er nicht erst nach drei oder vier Jahren gemerkt haben. Warum klaut er plötzlich Daten und versucht, sie zu verkaufen? Brauchte er Startkapital für seinen Internetladen?«
    Elin fuhr herum und schaute Zollanger zornig an.
    »Wer sagt, dass er die Daten verkaufen wollte?«
    »Ich sage das. Weil es so war.«
    »Woher wollen Sie das wissen? Kann es nicht sein, dass er einfach ein anständiger Mensch war, der Beweise gesammelt hat?«
    Zollanger blickte sie mitleidig an.
    »Ein anständiger Mensch, der für so eine Bank arbeitet? Ist das Ihr Ernst?«
    Sie schaute ihn völlig irritiert an. Er zuckte nur mit den Schultern.
    »Ich komme aus dem Osten, Elin. Ich bin fremd hier. Erklären Sie mir dieses Paradox.«
    Elin wusste nicht, was sie erwidern sollte. Was der Mann sagte, war nicht sehr weit von dem entfernt, was sie selbst auch dachte.
    »Ich muss in letzter Zeit oft an einen Roman denken, den ich als Jugendlicher gelesen habe«, fuhr er fort. »John Steinbeck,
Die Früchte des Zorns.
Da gibt es diese entsetzliche Passage, wo eine Familie von ihrem Land vertrieben wird, in den sicheren Hungertod. Die Familie hofft auf Gnade. Sie haben nichts falsch gemacht. Was können sie dafür, dass die Preise gefallen sind, ihre Arbeit nicht mehr profitabel ist. Sie betteln um Aufschub. Das sei nicht möglich, wird ihnen gesagt. Die Bank könne nicht anders. Die Bank? fragen sie. Aber das seien doch Menschen. Nein, werden sie belehrt. Das sei ein Irrtum. Eine Bank sei etwas ganz anderes, etwas völlig Unmenschliches. Aber sie bestehe doch aus Menschen, beharrt die Familie. Sicher, sagt man ihnen. Und es treffe sogar zu, dass jeder, der für die Bank arbeitet, es hasse, was die Bank tut. Aber die Bank sei größer als der Mensch. Sie sei ein Monster. Menschen hätten sie zwar geschaffen, aber Menschen könnten sie nicht kontrollieren.«
    Er schaute sie an. Elin sagte nichts.
    »Und wissen Sie auch, warum das so ist?«, fuhr er fort. »Weil die Bank von etwas lebt, das unerschöpflich ist: von Gier. Sie ist im Grunde nur das Vergrößerungsglas der Raffgier all derer da draußen, die heute schon ausgeben wollen, was sie noch gar nicht haben. Das Monster sind immer auch die, die es nähren und füttern. Aber das wissen Sie vermutlich so gut wie ich, oder?«
    »War das eine Frage?«
    »Nein. So mager, wie Sie aussehen, sind Sie vielleicht wirklich ein anständiger Mensch. Aber was ist mit Ihrem Bruder? Warum hat er da mitgemacht? Warum hat er erst glücklich und zufrieden für das Monster gearbeitet und auf einmal beschlossen, es zu reizen? Verstehen Sie das?«
    »Vielleicht, weil es ihn angekotzt hat«, entgegnete sie aufgebracht. »Weil er gesehen hat, was es anrichtet. Was weiß ich! Man könnte meinen, Sie gönnen ihm sein Schicksal.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Was für ein menschenverachtender Zyniker sind Sie eigentlich? Sie wissen, dass mein Bruder von irgendeiner Scheißbank in den Tod getrieben oder ermordet wurde. Sie sind sogar Polizist. Und Sie haben nichts unternommen?«
    »Sie wissen sehr wenig über mich«, erwiderte Zollanger.
    »Es liegt bei Ihnen, das zu ändern.«
    Zollanger schaute auf seine Armbanduhr, dann wieder in den Hof. Es dämmerte bereits.
    »Die BIG ist nur ein kleiner

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