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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ins Schlafzimmer, in dem anstelle des Ehebetts eine Matratze auf dem Boden liegt. Das wird ihr Nachtlager bleiben, bis sie sich entscheiden kann, ob das neue Bett schmal oder breit sein soll.
    Elsa öffnet die Balkontür. Auch in dieser Augustnacht kühlt es nicht ab. Sie ist nicht die Einzige, die in den schwülen Nächten keinen Schlaf findet, auf dem Balkon hört sie ihre Nachbarn Stühle rücken und flüstern. Zu Tausenden stehen sie in dieser Stadt an den Fenstern, in Höfen und Straßen und schauen gen Himmel, warten nachts auf den Schlaf, warten tags auf den Regen. Barfuß geht sie in die Küche, fischt das fortgeworfene Türschild aus dem Eimer, ein bisschen Hasenstreu klebt daran, eine Möhrenschale. Umso besser, das befördert das Wachstum. Mit aller Kraft schleudert Elsa »Familie Mitchell« vom Balkon in den Garten.
    Auf der Rückseite des Hauses leuchten keine Scheinwerfer ins Zimmer. Auf ihrer Matratze, unter dem weißen Laken, ist sie von Dunkelheit umhüllt. Andere, denkt sie, werden in unseren Räumen wohnen, sich dort lieben, streiten, essen, schlafen.Andere, die nichts von uns wissen, so wie wir nichts von denen wussten, die vor uns da waren. Die Jahre sind vergangen, bleiben für immer so, wie sie waren. Die Zukunft ist unsichtbar, aber du glaubst daran, musst daran glauben. Du wirst ein anderes Dach über dem Kopf haben in einem anderen Haus in einem anderen Leben. Noch ist alles leer, aber bald wird Farbe einsickern in das weiße Bild.
    Sie ist aufgewacht, bevor der Mann sie ansah. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sein Gesicht vom Mond beschienen. Sie wird die Augen nicht öffnen, will weiter mit ihm schweben, durch einen flüssigen, warmen Himmel. Warm strömt es auch durch ihren Körper, als sie nun im Flug miteinander verschmelzen. Ihr weißes Kleid mit den fliederfarbenen Blumen hüllt sie beide ein. Beim Durchfliegen einer Wolke bleiben die Blumen darin hängen und regnen in den Garten hinter ihrem Haus. Beim Durchqueren der nächsten Wolke verschwindet auch ihr Kleid. Bald liegt die Stadt weit hinter ihnen und unter ihnen nichts als das spiegelglatte Meer. Wo sie Brust an Brust und Bauch an Bauch sich berühren, wird es so heiß, dass sie fürchtet, im Flug zu verglühen. Sie sehnt sich nach einem Sturz in das Meer der Ruhe. Und als dieser Sturz endlich kommt, nach einem gewundenen, steilen Weg in die Höhe, einem letzten Zögern vor dem Sprung kopfüber ins Nichts, entfährt ihr im Fallen ein Schrei. Benommen liegt sie mit offenen Augen, sie ist nicht zerschellt, nicht ertrunken. Aufgelöst fühlt sie sich und durchströmt von Kraft, die vom Kopf bis in die Zehen pulsiert. Das ist das erste Mal für sie, das erste Mal, dass es sich so anfühlt.
    »One of these mornings«, krächzt eine Stimme in ihr Ohr, »you’re gonna rise, rise up singing. You’re gonna spread your wings, child, and take, take to the sky.« Sie schaltet den Radiowecker aus, springt von der Matratze. Die Umzugshelfer können jeden Moment klingeln!
    In Jeans und T-Shirt, den letzten noch nicht weggepackten Sachen, die sie für diesen Tag herausgelegt hat, läuft sie die Treppen hinunter zum Briefkasten. Wie jeden Morgen seit ein paar Wochen befiehlt sie ihrem Herz, mit dem Hämmern beim Anblick des Blechkastens aufzuhören, doch heute ist es seit dem Erwachen in Aufruhr. Sie wirft einen Blick auf das Kuvert, es fällt ihr aus den Händen. Die Zeitschrift … der Wettbewerb! Es kann nur eine Absage sein. Eine Einladung zur Ausstellung mit den preisgekrönten Fotos der anderen. Sie setzt sich auf die Stufe und reißt das Kuvert auf.
    Da blickt er sie an, der Mann mit dem in den Nacken gelegten Kopf zwischen den Hinterköpfen und Rücken der anderen, sein vom Mond beschienenes Gesicht – im Hintergrund das Schaufenster mit dem Bildschirm, über den die Mondlandung flimmert. Benommen sitzt sie da, fassungslos und durchströmt von Freude. Es ist das erste Mal, dass sie für ein Foto Geld bekommen und dass es öffentlich zu sehen sein wird. Lächelnd liest sie den Titel der Ausstellung: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit«.
    Und manches, denkt sie, während sie hört, wie der Umzugswagen vorfährt, ist ein winziger Schritt für die Menschheit, aber ein großer Sprung für einen Menschen. Zum Beispiel für Elsa, geschiedene Mitchell, adoptierte Helbig, geborene Springer.

Dinge, die sich nicht ändern lassen
    Die Rückseite des Instituts ist unsichtbar von der

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