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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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eine Mauer um das Haus. Um die ganze Stadt. Sie nimmt eine kalte Dusche und tritt nackt auf den Balkon vor dem Schlafzimmer. Wasser tropft aus ihren Haaren und rinnt kühl über die Haut. Sie zündet eine Zigarette an und denkt an den Geruch im »Unergründlichen Obdach für Reisende«. Süßlicher Rauch und hitzige Diskussionen, das ist bestimmt nicht heilsam für ein noch immer erschüttertes Hirn. Aber der Name der Kneipe gefällt ihr. Vielleicht muss sie sich gar nicht so sehr um Stephanie sorgen. Vielleicht hat sie ja dort ihre Familie und ihr Zuhause gefunden. Fragt sich nur, ob es auch für Reisende wie sie selbst irgendwo Obdach gibt?
    Nebenan erscheint ihr Nachbar auf dem Balkon. Schaut kurz zu ihr herüber, verschwindet nach drinnen und schließt laut die Tür. Der soll sich mal nicht so haben, zwar trägt sie keine Kleider, aber immerhin auch keinen Blätterkranz auf dem Kopf. Elsa seufzt. So eine kleine Sintflut wie in Bethel, das wär jetzt genau, was Berlin braucht.
    Vicky ist als Erste im »Kranzler-Eck«. Sie hat einen Tisch für zwei reserviert, oben in der Rotunde, mit Blick auf den Ku’damm. Lange hat sie Wilhelm nicht gesehen. Wann war sie zuletzt in Ostberlin? Schneematsch und dunkle Häuserfronten,der Geruch nach Kohleöfen – natürlich, Weihnachten ’65 war das, sie hatte kaum noch mit einem Passierschein gerechnet, schließlich war sie mit den Glasers nicht verwandt. Wilhelm hat sie umarmt und Karla und die kleine Luise, die schon damals zu ernst war. Als sie einen Moment mit Bernhard allein war, hat sie ihm einen Brief von Elsa überreicht. Wegen der Zensur und so, hatte die gemeint, wolle sie ihn nicht schicken, und sie solle ihn Bernhard unter vier Augen geben. Da hat sie sich doch gewundert, um welche Zensur es hier eigentlich ging. Bernhard hat den Brief schnell eingesackt und ihr ein Kuvert für Elsa zugesteckt, das sie zurückschmuggeln sollte. »Du bist jetzt unsere Doppelagentin«, hat er gesagt, und obwohl ihr das Anliegen zweifelhaft vorgekommen ist, hat ihr die Sache mit der Doppelagentin gefallen. Noch am Abend desselben Tages musste sie zurück, und das war es dann mit den Passierscheinen. Seitdem ging gar nichts mehr, nicht mal für Verwandte. Die Mauer war in beide Richtungen dicht, außer für die Alten aus dem Osten.
    »Darf ich?«
    Vicky hat Wilhelm nicht kommen sehen. Wie schön das ist, sich wieder in die Arme zu nehmen, kurz durch seinen grauen Haarschopf zu wuscheln. »Hast dich gar nicht verändert.«
    »Schon. Bin neuerdings Rentner. Ganz schön alt fühlt man sich da.« Wie zum Beweis nimmt er umständlich Platz und schaut lange angestrengt in die Getränkekarte.
    »Zum Glück bist du Rentner, sonst wärst du nicht hier!« Sie lächelt ihn an, er vertieft sich weiter in die Karte. Wilhelms Vorrat an Westgeld dürfte knapp sein, fällt Vicky ein. Eilig setzt sie hinzu: »Ich lad dich ein zu Kaffee und Kuchen, ja? Bohnenkaffee.«
    »Haben wir auch, stell dir vor«, sagt Wilhelm, dann spielt ein Lächeln um seine Lippen. »Weißt schon, Marke Goldstaub. Teuer wie Gold und schmackhaft wie Staub.«
    Vicky erzählt von Elsas Scheidung, Elsies Krebs und StephaniesKommunenleben, von Jonas in den Staaten und den verrückten Kunden im KaDeWe. Wilhelm hört aufmerksam zu. »Und, wie geht es euch?«, will sie endlich wissen.
    Er kaut an seinem zweiten Stück Kuchen, dabei hat er es doch gar nicht so mit Süßem, womöglich hat er es nur bestellt, um keine Worte machen zu müssen mit vollem Mund. Es ist so still an ihrem Tisch, dass sie sein Kauen und Schlucken wahrnimmt. Dann hört auch das auf. »Karla und Martha, das klingt so ähnlich, nicht?«
    Sie zuckt zusammen, schüttelt den Kopf, aber ja, natürlich klingt es ähnlich. So weit ist sie nie gegangen, ist in Gedanken immer vorher abgebogen, doch sie versteht sofort, was er meint. Dass er eine Todesangst hat bis heute, wenn er an den Tag denkt, als sie Marthas Brief auf dem Küchentisch fanden, eine Todesangst, wenn nun Karla am hellen Tag sich im abgedunkelten Zimmer die Decke über den Kopf zieht. Leise erzählt er, dass er sich oft um Luise kümmert, wenn es Karla schlecht geht. Hin und wieder bei ihnen schläft, wenn Bernhard Spätdienst hat oder auf Dienstreise ist.
    »Karla vergeht, und Bernhard geht aus dem Haus«, sagt Wilhelm mit so viel Bitterkeit in der Stimme, wie Vicky es bei ihm noch nie gehört hat. Auch er war damals immer länger aus dem Haus gegangen …
    »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei!«,

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