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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Kreuzung Wilhelm-Pieck-Straße und Prenzlauer Allee, über die Trabis knattern und Trams rattern. Die Bürokammern mit Blick zum Hof wenden der Stadt den Rücken, und die Sonne dringt nicht vor bis in die unteren Etagen des Innenhofs. In diese stets dunklen und kühlen Kammern wurden die Lesegeräte verbannt. »Verbannte« nannte man auch die Leser vor den Geräten, »nach Sibirien« den Gang in die rückwärtsgewandten Räume. Wer dort saß, wurde vergessen und vergaß – sich selbst und die Zeit und darüber nicht selten auch den Grund seines Aufenthalts und das Ziel seiner Suche. Denn um etwas zu suchen und zu finden, saß man ja dort, vor den großen, knarzenden Lesegeräten. Starrte und starrte, drehte den Knopf, sah Seite für Seite alter Zeitungen vorüberziehen. Dafür brauchte man kein Licht, nur Geduld und die Zuversicht, sicher zu sein, hier, wo die Uhren anders gingen.
    Bernhard ist jetzt oft in Sibirien, sooft er kann, sooft man ihn lässt. Sitzt Stunden um Stunden am Lesegerät, lässt Jahrgang für Jahrgang der »Roten Fahne« vorüberziehen. Freut sich über jede weiße Seite, der Zensur einer vergangenen Zeit geschuldet. Von Zeit zu Zeit hebt er den Kopf, sein Blick bleibt gedankenverloren am Porträt eines Menschen hängen, der sich verdient gemacht hat um Partei und Arbeiterklasse. Er hört keinen Laut und weiß doch, dass im ganzen Gebäude, in den zahllosen kleinen Räumen, eine Menge Leute sitzen, zwischen Wandbildern,Regalen, Vorhängen, auf harten Stühlen und an Tischen, deren kühle Sprelacartbeschichtung noch jeden Schweiß überstanden und manchen Büroschlaf vereitelt hat.

    Bernhard ist einer der letzten in der Zeitungsredaktion. Der Regen prasselt gegen die großen Fensterscheiben des ND-Gebäudes, die Welt da draußen ist ein einziger Wasserfall. Vielleicht sollte er einfach hierbleiben und die Nacht durchschreiben. Nachts allein mit dem Regen lässt es sich aushalten in der Redaktion, und von seinem Beitrag für die erste Ausgabe der neu gestalteten Zeitung sind erst wenige Zeilen verfasst. Wahrscheinlich wird er am Ende gar nicht gedruckt, wen interessieren schon die revolutionären Traditionen der Arbeiterpresse? Niemanden vermutlich, außer ein paar Institutskollegen. Trotzdem wird er in den nächsten Tagen noch einmal ins Institut gehen, in die Wilhelm-Pieck-Straße 1, um sich einige Jahrgänge der »Gleichheit« anzuschauen.
    Er hält es nicht längere Zeit aus, ohne wenigstens ein paar Stunden dort zu sein. Im Jonass, Elsas und seinem alten Spielplatz, der nun schon so lange ein Arbeitsplatz für ihn ist. Immer öfter ertappt er sich bei dem Wunsch, es wäre sein einziger Arbeitsplatz. Immer schwerer fällt es ihm, für das Neue Deutschland zu schreiben. Aber schreiben will er. Schreiben muss er. Also nutzt er jede Gelegenheit, jeden Grund, jeden Vorwand, von der Redaktion ins Institut zu wechseln, dort in Archiven zu graben und über die Geschichte zu schreiben. Die Geschichte vor ’45, wenn irgend möglich.
    Die Kollegin aus der Wissenschaftsabteilung hat sich in einer der letzten Redaktionssitzungen beschwert, dass die Geschichte der Arbeiterbewegung hier im Blatt nur als Männergeschichte aufgeschrieben würde. »Olle Kamellen«, hat ein Wirtschaftsredakteurgemurmelt, »Weiber von damals«, und sich dafür einen Rüffel vom Chefredakteur eingehandelt, verbunden mit einem verschwörerischen Grinsen. Aber Rüffel ist Rüffel und hat Folgen zu zeitigen, und im Ergebnis ist ihm, dem zuständigen Schreiber für olle Kamellen, der Auftrag erteilt worden, in seinen nächsten Texten mehr auf die Gleichberechtigung zu achten und zu diesem Zwecke Clara Zetkins »Gleichheit« zu durchforsten. Könnt ihr haben, denkt Bernhard, und freut sich darauf, wieder ein paar Tage im Institut sitzen zu können und nicht in die Redaktion zu müssen. Und auch nicht früher als nötig nach Hause.
    Bernhard wird durch die Rohrpost aufgeschreckt, die ein wichtiges Papier von A nach B transportiert und nicht in seinem Zimmer haltmacht. Er beschließt, draußen auf dem Gang eine Zigarette zu rauchen. Vor dem Paternoster stellt er fest, dass er doch nicht der Letzte im Haus ist, aber für einen Rückzug ist es zu spät, der Kollege winkt ihn zu sich. Ausgerechnet einer aus der Abteilung Parteileben.
    »Soll ich dich ein bisschen agitieren«, fragt er und grinst ihn an. »Dass man nicht mit Heißluftballons durch die Luft fliegt, weil das staatsfeindliches Handeln und zudem eine Gefahr für Leib und

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