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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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durch die Wohnung, und auf ihr Echo folgt ein leises, schnelles Tapsen. Zuerst hat es Elsa genervt, wenn ihr wieder ein weißes Fellbündel zwischen die Füße geriet, inzwischen bleibt sie stehen, lauscht und hält Ausschau, wenn das Hoppeln ausbleibt. Elsa schraubt das Schild von der Wohnungstür, »Familie Mitchell« – gibt es nicht mehr. Eine Frau und ein Kaninchen sind keine Familie, und auch für sie beide ist es hier die letzte Nacht. Grace war schon in der Rubrik »zu verschenken« im Wochenblatt inseriert, doch seit Elsa erfahren hat, dass selbst Vicky bald fortgeht, sagt sie den Anrufern, der Hase sei über Nacht verschwunden. Sie wirft das Holzschild in den Abfalleimer, an die neue Tür kommt ein neues Schild. Vielleicht schreibt sie »Elsa & Grace«.
    Sie setzt sich auf den Karton in der Mitte des Zimmers, wo früher der meterlange Esstisch stand, und sieht sie beide dort sitzen, an einem Kopfende sie selbst, am anderen das weiße Kaninchen. »Würdest du mir den Salat reichen, Grace-Darling?« Das wenige, das nicht verkauft und verschenkt ist, wartet mit ihr darauf, morgen früh abgeholt und verfrachtet zu werden. Das ist jetzt ihr Zuhause, ein Wartesaal voller Zugluft und Gerümpel. Helle Flecken an den Wänden, wo Bilder hingen, umrahmt von Trauerrändern. Die Bretter des abgebauten Regals erinnern sie an einen Sarg.
    Vielleicht hat sie das von Vicky, dieses Festhalten an einem Heim, selbst wenn es keine Heimat mehr ist. Wie hatte Vicky darum gekämpft, in der Villa bleiben zu dürfen, dem viel zu großen Haus, in dem sie mit Gerd Helbig unglücklich gelebthatte und ebenso unglücklich ohne ihn, als er tot war. Nachdem der Kampf um das obere Stockwerk verloren war, hatte sie ihn mit derselben Erbitterung um das Erdgeschoss fortgesetzt. Als sie auch dieses räumen mussten, kämpfte sie um die letzten verbliebenen Möbel, die sowieso nicht in die neue Wohnung passten. Der alte Kleiderschrank und das angekokelte Bett aus ihrem Kinderzimmer stehen noch heute in der engen Tempelhofer Wohnung, in der Einflugschneise des Flughafens. Leo hat keine Chance gehabt, Vicky in sein Haus zu locken. Ja, so ist ihre Mutter, klammert sich an bestimmte Menschen und Dinge und lässt andere achtlos ziehen. Klaus zum Beispiel, der mit seiner Frau und dem kleinen Roland in Westdeutschland lebt und den Vicky kein einziges Mal besucht hat. Wenn Vicky Westdeutschland sagt, klingt das wie ein anderer Kontinent.
    Draußen schwindet das Abendlicht, Elsa zündet im Wohnzimmer Kerzen an. Besser als die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelt. Im Dämmerlicht denkt sie an die seltsame Eröffnung ihrer Mutter, die in ihrem ganzen Leben nie im Ausland gewesen und selbst aus Berlin kaum herausgekommen ist. Sie will in die USA fliegen, sobald Elsie über den Damm ist. Was sie denn da wolle? Na, ihren Sohn und ihren Enkel sehen, gab Vicky zur Antwort, obwohl es ihr in den vergangenen beiden Jahren nie in den Sinn gekommen ist, Werner in Amerika einen Besuch abzustatten. Im Gegenteil, man hatte fast den Eindruck, dass sie sein Fortgehen als Verrat empfunden hat und er seitdem für sie gestorben ist. Niemand hat ihr diese plötzliche Familiensehnsucht und Reiselust abgenommen, und später, wie zu sich selbst, hat sie etwas von Walderdbeeren gemurmelt, der Geschmack von Walderdbeeren, die gäbe es hier nicht mehr, nicht so wie früher. Sie wird doch nicht schon senil? Unmöglich kann man Vicky allein um die halbe Welt reisen lassen. Doch genau das ist der Plan. Erst hat sie, zögerlich, Elsies Begleitung abgelehnt, anschließend, sehr entschieden, Leos. Dann solle sie biszu Stephanies Semesterferien warten. Sie habe lange genug gewartet. Was für ein Unsinn, hat Elsa gedacht, und dass sie sich, wenn ihre Mutter nun auch noch fortging, von aller Welt verlassen fühlen wird.
    Die Kerzen sind erloschen, der Raum liegt im Dunkeln. Ab und zu erhellen Scheinwerfer vorbeifahrender Autos die Wände. Wie spät es wohl ist? Sie sollte ins Bett gehen, morgen früh gegen acht werden die Umzugshelfer klingeln. Elsa wandert, ohne Licht zu machen, noch einmal durch alle Zimmer. Vom Wohnzimmer in die Küche, in der es sehr still ist, seit kein Kühlschrank mehr summt. In die leeren Zimmer, die bis zum Schluss für sie Kinderzimmer heißen. Ins Bad, das nackt aussieht ohne Plastikschüsseln und Chemikalienflaschen. Eine einzelne Zahnbürste steht im Becher, ein einzelner Film trocknet an der Leine. Den darf sie morgen früh nicht vergessen. Vom Bad

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