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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Leben darstellt? Und nicht nur das. Der Diebstahl heißer sozialistischer Luft führt zur Schwächung unseres Landes und dient dem Feind.«
    Bernhard weiß, wovon der Kollege spricht. Vor vier Tagen haben zwei Familien aus Thüringen mit einem Heißluftballon die Reise nach Bayern angetreten – und sind durchgekommen. Ein verdammtes Glück müssen die gehabt haben, denkt er und schweigt lieber. Auch wenn der Kollege einen lockeren Ton anschlägt, es kann eine Falle sein.
    »Habt ihr schon die Argumente zusammen, mit denen wir alles wieder geraderücken können?«, fragt Bernhard und zündet sich die Zigarette an. Dass er irgendwann mal mit dem Rauchenanfangen würde, hätte er nicht gedacht. Eigentlich war der Vater mit seinem Knaster abschreckend genug. Aber nach Karlas Tod hat er sich die erste Schachtel seines Lebens geholt. Fünf Zigaretten hintereinander am Tag der Beerdigung, danach gekotzt, Schachtel weggeschmissen, zwei Tage später eine neue gekauft.
    Und nun? Eine Schachtel am Tag, wenn es schlecht läuft. Luise macht ihm hin und wieder die Hölle heiß, wenn sie zu Besuch kommt. Elsa hat ja noch als halbes Kind angefangen und ihm später erzählt, dass es an der alten Hexe läge, die sie auf die Welt geholt hat im Kaufhaus. Eine tolle Entschuldigung. Nun ist er also auch im Club, und vor zwei Monaten ist es das erste Mal passiert. Die Welt fing an, sich zu drehen, und das Herz geriet aus dem Takt. Nächste Woche muss ich wirklich zum Betriebsarzt, denkt er, es geht doch nicht an, dass man mit fünfzig schon so aus dem Rhythmus gerät. Er versucht sich wieder auf das Schwatzen seines Kollegen zu konzentrieren.
    »Bestarbeiterkonferenz«, sagt der und sieht ihn fragend an. Bernhard rätselt, wie der Satz davor gelautet haben mag. Der Kollege guckt weiter, aufmunternd, auffordernd. »Ja«, sagt Bernhard und nickt. Der Kollege lächelt. »Gut, dann wirst du uns bei der Berichterstattung unterstützen. Bei der Bestarbeiterkonferenz.«
    Kaum möglich, jetzt noch zurückzurudern. Das hat er nun von seiner Raucherei. Obwohl es schon drei Jahre zurückliegt, denkt er noch immer mit Grausen an den Parteitag. Da hatte er die Aufgabe, die schriftlich vorliegenden Reden mit dem gesprochenen Wort zu vergleichen. Irgendwie war ihm nie zuvor so deutlich geworden, wie eintönig und rhetorisch haltlos diese ganzen Reden waren. »Für jedermann treten die Vorzüge des Sozialismus deutlich hervor. Das Vertrauen der Werktätigen in die Partei der Arbeiterklasse wächst.« Durch Bernhards Kopf ziehen wie auf Spruchbändern die Sätze, die er damals gelesen und mit dem gesprochenen Wort verglichen hat. Kann sein, dassdie Bestarbeiter ein anderes Blatt vor den Mund nehmen, aber sicher kein bunteres. »Für einen Tag kannst du mich einteilen«, hört er sich sagen und macht auf dem Absatz kehrt.
    Zurück im Zimmer beschließt er, doch nach Hause zu gehen, solange hier noch Bestarbeiterkonferenzbeauftragte die Gänge unsicher machen. Scheiß auf den Regen, er braucht ein Bier, den Fernseher und vielleicht eine Wanne voll warmen Wassers. In zehn Minuten fährt der nächste Bus, das Auto hat er stehen lassen, weil ihm das Geräusch verdächtig vorkam, das es gestern Abend beim Fahren produziert hat. Klingt nach Vorschalldämpfer, also nach ernsten Sorgen. Als Redakteur beim Zentralorgan fehlten ihm an dieser Stelle die entsprechenden Beziehungen, er hatte nichts zu bieten, wofür ihm jemand unter der Hand einen Vorschalldämpfer besorgen würde. Er könnte zwar Charlotte fragen und die ihren Mann. Aber lieber lässt er die Karre erst mal stehen, als sich ein Autoersatzteil von der Firma besorgen zu lassen. »Durch die Firma«, sagt er und schiebt im Kopf hinterher »beim Konsum«. Das ist zwar genauso falsch gesagt, aber jeder verstünde es. Zum tausendsten Mal nimmt er sich vor, einmal nachzuhaken, warum man hierzulande sofort weiß, wovon die Rede ist, wenn jemand sagt: »Der arbeitet beim Konsum.«
    Zum Glück hat der Regen nachgelassen, und der Bus kommt pünktlich. Am Leninplatz steigt Bernhard aus, so springen wenigstens ein paar Meter heraus, die es zu laufen gilt, bis er vor der Haustür steht. Das mit dem Herzklabaster macht ihm wirklich Sorgen. Herzklabaster, wer hat das denn immer gesagt? Muss Marie gewesen sein, die verfügte über ein ganzes Wörterbuch voll komischer Begriffe, die Charlotte und er als Kinder nie verstanden, aber voller Begeisterung zu passenden wie unpassenden Gelegenheiten zum Einsatz brachten.

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