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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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tönt es durch die Straße in ihre Gedanken hinein. »Die Demonstration ist nicht genehmigt! Verlassen Sie unverzüglich Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße!«
    Die Cafébesucher an den umstehenden Tischen springen auf und drängen sich an die Balustrade, um das Schauspiel zu verfolgen, in sicherem Abstand, live und in Farbe. Polizeisirenen, Lautsprecher, das anschwellende Getöse eines sich nähernden Demonstrationszuges – unwillkürlich fühlt Vicky nach der Narbe an ihrer Schläfe.
    »Was hast du da?«, will Wilhelm wissen. Nachdem sie die Geschichte ihrer Verwundung erzählt hat, meint er: »Ja, eure so demokratische Polizei …«
    Vicky unterbricht ihn: »Wir leben auch nicht im Paradies.« Während um sie herum die Schaulustigen versuchen, die besten Logenplätze zu ergattern, bleiben Wilhelm und Vicky abseits an ihrem Tisch.
    »Besuchst du unser Haus noch?«, fragt sie. »Euer Haus, sollte man wohl sagen. Wer weiß, ob ich’s zu meinen Lebzeiten noch zu sehen kriege.«
    »Nach deinen Lebzeiten mit Sicherheit nicht. Es sei denn, dort befindet sich irgendwo das Tor zum Paradies.« Wilhelm lächelt. »Und man würde dich reinlassen …«
    Die Parolen skandierenden Demonstranten, übertönt von Lautsprecherdurchsagen der Polizei, scheinen nahe gerückt zu sein.
    Vicky beugt sich zu Wilhelm. »Ich dachte, ihr wollt das Paradies hier auf Erden schaffen. Aber nach dem Sieg des Sozialismus zieht ihr auch noch um den Himmel einen antifaschistischen Schutzwall. Baut eine Mauer durch die Milchstraße, ganz wie hier in Berlin. Nun sind wir sogar Bürger verschiedener Staaten.«
    Wilhelm zieht etwas aus der Tasche und schiebt es ihr unter der Tischplatte zu. »Übrigens: neuer Auftrag für die Doppelagentin.«
    Vicky weiß nicht, ob die Heimlichtuerei ernst gemeint ist, ohnehin sind alle Augen der anderen Gäste auf die Straße gerichtet. Sie ertastet einen Briefumschlag und lässt ihn in die Handtasche gleiten.
    »Karla und Martha«, setzt Wilhelm noch einmal an. »Ich hab mich oft gefragt, warum Bernhard Karla gewählt hat. Es gab da mal eine Marianne, ein fröhliches Mädchen. Sehr hübsch. Irgendwann war sie verschwunden, und niemand durfte fragen.Oder vielleicht sogar Elsa, hast du das nicht auch eine Zeit lang für möglich gehalten?« Vicky will etwas antworten, doch Wilhelm fährt fort. »Manchmal denke ich, dass Bernhard noch heute auf Martha wartet, und das kann ich ihr nicht verzeihen.« Er schaut auf die Tischdecke. »Ich hab es niemandem erzählt, auch nicht Charlotte und Bernhard. Bernhard schon gar nicht. Nicht einmal Marie. Weißt du, ich musste sie identifizieren.« Er spricht so leise, dass sie ihn kaum versteht. »Die toten Frauen. Die sie in den Jahren danach aus der Spree gefischt haben. Oder dem Landwehrkanal. Irgendwelchen Schleusen.«
    »Oh Gott«, sagt Vicky und fasst nach Wilhelms Hand. »Das ist ja … wie entsetzlich für dich.«
    Wilhelm löst die Hand aus ihrer und ballt eine Faust. »Ich hab es der Polizei selbst gesagt. Wenn meine Frau sich umgebracht hat, hab ich gesagt, dann ist sie ins Wasser. Da war ich hundertprozentig sicher. Bin es noch heute.«
    Vicky weiß nicht, wie sie danach fragen soll. Kein Satz fällt ihr ein, der nicht unverzeihlich grob klänge. Doch dann beantwortet Wilhelm von sich aus die unausgesprochene Frage. »Ich weiß es nicht. Ob eine von ihnen Martha war. Manche waren es sicher nicht. Aber ein paar waren darunter …« Er schluckt, hält sich die Hand vor den Mund. Vicky sieht seinen Adamsapfel auf und ab steigen. »Das waren ja gar keine Menschen mehr«, stößt er durch die Zähne hervor. »Ich hab später Tote genug gesehen, aber keiner sah aus wie die … aus dem Wasser. Irgendwann hab ich mich geweigert, und sie haben mich in Ruhe gelassen. Als die Toten zu Tausenden in den Trümmern lagen, da kam es auf ein paar alte Leichen nicht mehr an.« Wilhelm schweigt, und Vicky sucht nach tröstenden Worten, die sie nicht finden kann.
    Da sie lange schweigend vor leeren Tellern und Tassen sitzen, kommt nach einer Weile die Kellnerin an ihren Tisch. Sie stellt das Tellerchen mit der Rechnung, auf der sich einiges angesammelt hat, vor Wilhelm. Der schaut ein wenig erschrocken, undnoch bevor er protestieren kann, legt Vicky einen Schein auf den Teller und schiebt ihn zur Seite.
    »Es wird andere Zeiten geben«, sagt Vicky. »Außerdem bleibt’s doch in der Familie.«
    Jetzt, da Wände und Böden kahl und die Räume beinahe leer sind, hallen Elsas Schritte

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